FORUM 27 Sommer 2007, S. 36 ff,

 Dieser Text ist ein Auszug aus einem Referat, bei dem das Thema Trauer und Hörverlust im Mittelpunkt standen. Der Zusammenhang ist vielen Spätertaubten nicht bewusst. Die Trauerarbeit ist eine wichtige Phase, in der die Gefühle des Verlusts zugelassen werden, aber auch die Akzeptanz und das Loslassen eine große Rolle spielen.

Verlust - Abschied - Trauer
(Mein) Leben mit der Schwerhörigkeit

Dagmar Terporten, Brüggen

Mein Name ist Dagmar Terporten, ich bin 60 Jahre alt, seit ca. 18 Jahren schwerhörig, davon die letzten 10 Jahre an Taubheit grenzend. Als Herr Pfarrer Sommermann mir im März das Thema „Trauer“ anvertraute, konnte ich zunächst nichts damit anfangen, hatte ich gar keine Lust, mich überhaupt mit diesem Thema zu beschäftigen. Es ging es mir doch richtig gut: Ich hatte mich zum CI entschlossen, das Ende des Winters und der Beginn des Frühjahrs brachten Schwung in mein Leben, und vor allen Dingen meine Enkelin wurde geboren.

Mit Trauer hatte ich nichts am Hut. Hatte ich mich doch in meinem neuen Leben als Schwerhörige nach einer langen Zeit der Trauer eigentlich recht gut eingelebt. Eigentlich …

Die Rückbesinnung, die aufgrund der Anfrage einsetzte, ließ viele unangenehme Gefühle wieder aufsteigen, schwierige Situationen tauchten wieder auf. Hatte ich meine Trauerphase doch nicht „hinter“ mir?

Halt, bevor ich Sie mit meinen durchlebten Gefühlen langweile, möchte ich gerne von IHNEN wissen: Welche Gefühle verbinden Sie mit dem Begriff Trauer?

Ich meine nicht nur die Trauer, wenn jemand stirbt oder wenn etwas Furchtbares passiert. Trauer beherrscht uns in vielfältigen Formen. Trauer ist in den verschiedenen Formen als urmenschliches Gefühl zu sehen.

Ich bitte Sie, mir IHRE Trauer näher bringen. Dies beschränkt sich nicht auf den Verlust der Hörfähigkeit. Auch in IHREM Leben gab es und gibt es mit Sicherheit Situationen der Trauer: Etwas verletzt Sie, geht zu Ende, Sie verlieren einen Menschen durch Gleichgültigkeit oder den Tod, Ihre Vorstellung von einem Menschen, von Ihrem Beruf wird durch eine Entwicklung zerstört, der Abschied vom Ideal der perfekten Mutter, Ehefrau, der Abschied vom Jungsein...
Ich verteile jetzt an jede/n einen Zettel. Hierauf schreiben Sie ein, zwei Gefühle, die in Trauersituationen aufgekommen sind. Lassen Sie sich Zeit, viel Zeit. Lassen Sie die Gefühle zu, bremsen Sie bitte nicht ab. Geben Sie mir dann, wenn Sie fertig sind, Ihren Zettel.

Viele Frauen in der Familie meiner Mutter waren hochgradig schwerhörig. Die Hörgeräte dieser Generation waren wohl reine Lautverstärkungsgeräte, die so unangenehm waren, dass die meisten darauf verzichteten. Entsprechend laut war die Kommunikation. Ich fand es manchmal unerträglich mit diesen schwerhörigen Frauen und ihren unangenehmen Stimmen, laut und nicht immer gut akzentuiert.

Als ich 42 Jahre alt war, trat das ein, was ich insgeheim befürchtet hatte: Meine drei Schwestern hatten die schönen langen Beine meiner Mutter geerbt, ich ihre Schwerhörigkeit.


Eine Spirale der Verluste

Der Besuch beim HNO-Arzt war für mich im wahrsten Sinne des Wortes erschütternd. Auf der Rückfahrt im Auto merkte ich, wie die Tränen hochstiegen. Ich unterdrückte sie tapfer mit aller Kraft, ich wollte stark sein, stark bleiben.

Heute denke ich, hättest du das doch nicht gemacht. Die Tränen hätten dir geholfen, dich zu befreien, leichter zu werden, deine Schwäche zu erkennen und zuzugeben.

Aber dazwischen liegen auch 18 – ich wiederhole – 18 Jahre Erfahrung, Kämpfe, Minderwertigkeitsgefühle, Leid, Unsicherheit, Überheblichkeit, Angst, Mutlosigkeit, Wut, Niedergeschlagenheit, Resignation, Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung, Angst, Hilflosigkeit, Verletzlichkeit, Depressionen. Das waren MEINE wechselnden Gefühle der Trauer – eine Achterbahn. IHRE Gefühle decken sich da zum größten Teil offensichtlich.

Der Abschied von meinem gewohnten Leben, mit dem ich ja äußerst zufrieden, glücklich war, habe ich nicht kampflos über mich ergehen lassen. Ja, es war mir trotz meiner Erfahrung als Kind einer Schwerhörigen überhaupt nicht klar, was sich alles ändern würde.

Die Spirale der Verluste – meine Schwerhörigkeit wurde ja immer gravierender, sagen wir ruhig, immer schlimmer - führte mich bis zu einem Punkt der Erschöpfung, an dem ich dann kapitulierte. Ich bin ein lebensfroher Mensch und wollte es auch bleiben. Die einzige Möglichkeit war, mich von meinen Erwartungen, meinem alten Leben zu verabschieden und mein neues Leben mit den zum Teil reduzierten Möglichkeiten anzunehmen.

Dies brauchte mir niemand zu erklären – ich hätte es auch von keinem Menschen akzeptiert – es war mir auf einmal klar. Allerdings erst, als ich ganz „unten“ war.

Das alles hatte 14 Jahre lang gedauert. Solange hatte ich gegen die Folgen meiner zunehmenden Behinderung gekämpft. Das Schlimmste in dieser langen Zeit der Verluste war – im Rückblick gesehen, dass ich es nicht geschafft habe, meine Gefühle mir und anderen zu offenbaren, ja, ich war mir noch nicht einmal selber darüber im Klaren, was ich empfand.
Ich klammerte mich mit aller Macht an mein altes Leben und konnte diesen Kampf nicht gewinnen, ließ nur viel Kraft dabei.


Mein Weg zur neuen Identität

Mein Weg zur neuen Identität als Hörgeschädigte war lang. Ich war ja nicht schwerhörig, ich hörte nur nicht so gut. Konnte und machte alles wie vorher. Das sollte nicht ohne Folgen bleiben:

  • Scham – Hörgeräte wurden unter den Haaren versteckt, Außenstehende wurden nicht informiert, ich gab nicht zu, wenn ich etwas nicht verstand – ein unendliches Thema.
  • Selbstbeschimpfung – (Du bist zu blöde…)
  • Leugnen – Der andere nuschelt, darum verstehe ich nicht. Interessiert mich sowieso nicht. . Mich mit anderen Schwerhörigen zusammentun? Das waren doch sicher alte Tanten, die so gar nichts mehr verstanden, ich war doch normal hörend, hörte eben nur nicht mehr so gut.
  • Schauspielern – (Lachen, wenn man nichts verstanden hat)
  • Lügen – (Gründe erfinden, warum man nichts verstanden hat.)
  • Übertriebene Anpassung – Wenn ich schon nicht mehr mithalten konnte, wollte ich wenigstens anerkannt, geliebt werden, weil ich doch sooo verständnisvoll, lustig, tolerant bin. Nix da – ich wurde ein „Weichei“, verbog mich.
  • Angst – Bloß nicht ans Telefon gehen, verstehe vielleicht wieder einmal die Hälfte nicht.
  • Festklammern an das alte Leben – Geht schon, ist halt ein wenig schwieriger, aber geht schon…
  • Kämpfen bis zur Erschöpfung – bloß nichts ändern müssen
  • Erkennen –, (zum Schluss) dass es so nicht weitergeht…

Es war nicht so, dass ich eines Morgens aufstand und den Entschluss fasste, mein Leben umzukrempeln. Nein, die Erkenntnis brach einfach über mich herein. Es war ein ganz kleiner, scheinbar unbedeutender Auslöser:

Ich kam an einem Spiegel vorbei, wollte mich eigentlich gar nicht betrachten, sah aber zufällig mein Gesicht und blieb wie vom Donner gerührt stehen. So müde, tiefliegende, traurige Augen! Da wurde mir ganz plötzlich klar, dass ich mich neu orientieren musste.


Die Kämpfe aufgeben

Machen wir doch einmal die Fäuste ganz fest zu, so fest wie es geht. Das ist für eine Zeit ein gutes Gefühl. Ich bin stark. Aber was passiert, wenn die Fäuste ganz lange geschlossen bleiben? Sie sind verkrampft, beginnen zu schmerzen. Ich kann mit meinen Händen gar nichts anderes mehr machen, nicht streicheln, keine Hand annehmen, kann nur noch klammern. Wenn wir die Fäuste lösen, merken wir das Wohltuende: Das Blut fließt, wir atmen durch, fühlen uns freier.

So ist es mir ergangen.

Als ich Trauer feststellte und zugab, den sinnlos gewordenen Kampf aufgab, war ich auch in der Lage, die guten Seiten meines Lebens zu sehen.
Als ich losließ, habe ich ganz viel Hilfe erfahren, weil ich sie endlich annahm.
Ich lerne, Abschied zu nehmen, und mache die Erfahrung, dass auch dieser neue Weg zu einem lebenswerten Leben führt.
Ich erfahre, dass ein gutes Leben nicht immer gleichzusetzen ist mit einem leichten Leben.
Ich muss lernen, meine alte Vorstellung von meinem Leben loszulassen.
Ich lerne, meine neuen Grenzen anzunehmen.
Ich muss aber auch immer wieder den Mut aufbringen, Neues auszuprobieren, auch mit dem Risiko zu scheitern. (Kurse besuchen, Theater mit Ringleitung).

Pfarrer Lutz bezeichnete es im vergangenen Jahr hier in Pappenheim als ein „Geschenk“. Eins, das ich mir überhaupt nicht gewünscht habe, aber eins, was durch mein Annehmen letztlich überhaupt erst zum Geschenk wird.
Nach Verlust und Trauer kam die Phase des

  • Loslassens (Das alte Leben ist Geschichte),
  • Zulassens (Ja, ich bin hörgeschädigt!)
  • Annehmens der geänderten Lebensumstände. (Überdenken und Gestalten der neuen Situation)

Einer trage des Anderen Last

Wie hat man mir – abgesehen von den praktischen Hilfen des deutlichen Sprechens – denn überhaupt geholfen?

In der Gemeinschaft mit anderen Schwerhörigen habe ich erfahren, dass auch sie diese Trauer erleben. Dieser Austausch stärkt mich, weil es mir leichter gelingt, den Verlust einzuordnen und zu akzeptieren. Hier empfinde ich meine Behinderung ja auch nicht als Schwäche oder Last, den Anderen geht es doch genauso.

Andere Schwerhörige in ähnlicher Lage kannte ich damals jedoch noch nicht, lebte ich ja ausschließlich in der Gesellschaft von Normalhörenden. In Gesprächen mit ihnen ging ich dem Thema „Schwerhörigkeit“ möglichst aus dem Weg.

Es war nicht nur die Scham, die mir die Lippen verschloss. Mir sträubten sich die Nackenhaare, ja ich war fast aggressiv, wenn ein Normalhörender mir Ratschläge oder Trost anbot. Es hatte für mich immer etwas Besserwisserisches und brachte mich schnell in Rage. Fühlte ich mich vielleicht minderwertig, mit einem Makel behaftet?

Die Familie und meine engsten Freunde gingen diesem Thema auch tunlichst aus dem Weg, sei es, dass sie sich hilflos fühlten, sei es, dass sie ahnten, dass ich es partout nicht wollte.
Je mehr Kraft mich dieses Dasein als Einzelkämpferin kostete, umso näher kam ich dann – im nachhinein betrachtet – meiner Lösung, ganz mutig ausgedrückt, meiner Heilung.
Ich konnte dann nämlich nicht länger die Fassade der Normalhörenden aufrecht erhalten, musste aufgeben, meine Schwäche zu verdrängen, zu verstecken.

Als meine Freundin mich in einem schönen Gespräch dann fragte, hoffnungsvoll fragte: “Aber Du kommst doch gut damit zurecht?“, brach es auf einmal aus mir heraus. Die Tränen strömten, und ich konnte nur noch den Kopf schütteln und stammeln „Nein, es ist so schwer.“ Sie sprang aus ihrem Stuhl auf und umarmte mich lange und fest, und ich merkte, dass auch sie weinte. Das war nach rund 12 Jahren Schwerhörigkeit das erste Mal, dass ich über den Verlust meines Gehörs weinte. Es tat so gut, das Mitgefühl zu spüren, gleichzeitig tat es mir so Leid, dass ich meine Freundin traurig machte.

Das zweite Mal, vor etwa zwei Jahren, probierte ich eine FM-Anlage zu Hause aus. Mein Mann war bei dem möglichen Kaufpreis sichtlich zusammengezuckt.

Dann hörte ich mir, was ich schon Jahre nicht mehr versucht hatte, im Fernsehen eine Musiksendung an. Lotti sang ein russisches Lied, und ich vernahm auf einmal Musik fast so, wie ich sie früher – als Normalhörende - einmal hören konnte. Es war eine unsagbare Freude, gleichzeitig schnitt das Bewusstsein des ungeheuren Verlusts tief in mein Innerstes, was ich doch so sorgsam vor mir und den Anderen verborgen hielt. Die Tränen liefen, mein Mann war fürchterlich erschrocken. Als ich schluchzte: “Das ist so schön.“, legte er seinen Arm um mich und brummelte: “Das Ding ist gekauft.


Beide Ereignisse waren für mich wichtig, die Reaktion der Beiden, meiner Freundin und meines Mannes, waren wunderbar. Sie nahmen Anteil, fühlten mit, haben mir signalisiert, dass sie mich mögen, haben auch ihre eigene Hilflosigkeit gespürt, es aber vermieden, Ratschläge zu geben. Sie haben die Situation mit mir zusammen ausgehalten. Mehr kann man nicht tun – meine ich.

Ähnliches erlebe ich – nicht ganz so dramatisch natürlich – immer wieder. Geduldiges Wiederholen, kurzes Zusammenfassen eines gerade vergangenen Gesprächs in großer Runde, um dann meine Meinung einzuholen, mich am Arm packen, wenn beim Wandern ein Auto von hinten sich nähert – alles unaufdringlich, selbstverständlich – und gar nicht selten.

Ich bin traurig: Trau mich nicht, traue mir etwas (nicht mehr) zu, habe kaum (Selbst)Vertrauen. Ich muss ein „Geländer“ finden. Worauf kann ich mich stützen?

Umgang mit Trauer

Trauer, Schmerz, Leid sind Gefühle, die ich mit sachlichen Argumenten nicht beeinflussen kann, zumindest in der akuten Phase. Alle Versuche, zu früh Lösungswege dem Betroffenen aufzuzeigen, gehen fehl. Ein drastisches Beispiel: Wenn der Ehepartner stirbt und dem Hinterbliebenen gesagt würde: “Du bist doch attraktiv und findest wieder einen Partner.“ wäre das äußerst geschmacklos und sicher nicht hilfreich. In einer späteren Trauerphase aber, in der ein Witwer, die Witwe beginnt, sich nach einer neuen Beziehung zu sehnen, macht die Ermunterung „Du bist ein liebenswerter Mensch, der einen anderen glücklich machen kann.“ Mut, einen neuen Weg zu suchen.

Der Trauernde bestimmt das Maß und die Richtung.

Die Trauer bringt uns dazu, die Endgültigkeit des Verlustes zu erkennen und anzunehmen.
Das geht nicht so mal eben, das braucht Zeit. Bei mir hat es 14 Jahre gedauert, ich mache eben alles besonders gründlich, auch im Negativen. Andere schaffen es sicherlich schneller, manche aber vielleicht nie.


Loslassen, Akzeptieren, Hingabe und Frieden – wir nehmen unser neues Leben an.

Meine Situation verbesserte sich rapide, als ich anerkannte, anerkennen musste, dass ich hochgradig schwerhörig war und eine Selbsthilfegruppe besuchte. Von da an nahm ich Hilfen an, suchte neue Wege und fand Unterstützung, Förderung, Freundschaften…

Die Trauer hatte mir also im Grunde geholfen, einen Weg aus der schlimmen Situation zu finden. Dafür musste ich aber auch bereit sein, mich dieser neuen Lage zu stellen, mein neues Leben als Schwerhörige anzunehmen.

Gut wurde es im Grunde, als es mir ganz schlecht ging – paradox, nicht wahr? Da wurde mir ganz klar, dass ich mein neues Leben als Schwerhörige annehmen musste, dass mein Leben in der alten Form für mich nicht mehr möglich war.

Deshalb behaupte ich, dass mir im Grunde bei einer Trauersituation kein Außenstehender von sich aus helfen, den Anstoß zur Hilfe geben kann. Die Annahme einer Hilfe – wie sie auch immer aussehen mag – die Vorgabe, wie die Hilfe aussehen sollte, muss vom Trauernden ausgehen.

  • Will er nur Schmerz loswerden?
  • Sich im Gespräch seiner Situation klar werden?
  • Braucht er konkrete Hilfe (die Bitte, einen Telefonanruf zu tätigen z. B.)?
  • Wie viel will er von seiner unglücklichen Situation erzählen?
  • Braucht er noch das Schweigen?
  • Ist er noch nicht so stark, seine Schwäche einzugestehen?

Jeder Mensch führt SEIN Leben, hat SEINE Trauer.

Patentrezepte einheitlicher Art wären daher fatal. Man muss sich öffnen, darüber sprechen ist ein ganz modernes Patentrezept. Klar, stimmt ja auch. Nur wenn es mir noch zu weh tut, wenn ich den Schutzschild einer scheinbaren Stärke nach außen hin brauche, muss man mir dies lassen, bis ich mich sicher genug fühle, mich zu öffnen.


ABSCHIED NEHMEN, TRAUER BRAUCHT IHRE ZEIT!

Meine Maske sollte niemand abreißen, ich nehme sie ab, wenn die Zeit für mich gekommen ist.

Kann ich Abschied nehmen und am Ende der Trauer ist alles gut? Ich behaupte, nein!

Es ist besser, vielleicht sogar viel besser geworden, ich habe mich eingerichtet in diesem neuen Leben, aber immer wieder kommt das Gefühl hoch, etwas Schönes verloren zu haben. Die Leichtigkeit des Hörens, der Musikgenuss, das Verfolgen und die Teilnahme bei Diskussionen, die Feier großer Feste mit Tanz und Gesprächen, Lesen und mit einem Auge oder Ohr im Fernsehen etwas verfolgen, eine kleine Kinderstimme hören – es ist verloren oder fast verloren. Das vermisst man einfach urplötzlich ganz schmerzlich, auch wenn man schon lange Abschied genommen hat - immer wieder!

Ganz plötzlich kann ich in eine Situation geraten, die mir die Grenzen meines Verstehens aufzeigt. Ich bin außen vor.

So ist es mir einmal vor gar nicht so langer Zeit in der Kirche ergangen. Mein Platz am Lautsprecher war besetzt – ich war wieder einmal spät und saß in der Kinderbank. Ich verstand von der Predigt, den Gebeten und Fürbitten nicht gerade viel, die Lieder erkannte ich nicht wieder, da ich auch noch mein Gebetbuch vergessen hatte. Beim Friedensgruß übersahen mich die Kinder. Anstatt selbst aktiv zu werden, stand ich dort und fühlte mich alleine, wie von einer gläsernen Wand von den anderen Kirchgängern getrennt, war müde und niedergeschlagen.

Zuhause schrieb ich dies einer ebenfalls schwerhörigen Freundin in einer E-Mail. Ihre verständnisvolle aufmunternde Antwort hat mich dann aus meinem Selbstmitleid geholt, und ich beschloss, demnächst frühzeitig in die Messe zu gehen, damit ich meinen Stammplatz zum guten Verstehen frei habe, ein Gebetbuch mitzunehmen, um zu wissen, welches Lied gesungen wird. Die Erinnerung an bekannte Lieder verhilft mir dann zur Melodie und ich traue mich, mitzusingen. Ja, und beim Friedensgruß hätte ich auch auf die Kinder zugehen können.

Gibt es nur eine Form der Trauer? Mit Sicherheit nicht. So verschieden wir leben, fühlen, lachen, lieben, so unterschiedlich fällt unsere Trauer aus. Der eine geht nach kurzer Zeit gestärkt aus dieser Phase hervor, der andere braucht Jahre, der eine durchsteht die Zeit lieber alleine, der andere braucht die Nähe und Hilfe von Freunden und Familie.

Trauerarbeit – ein Wort, das ich nicht so besonders gerne mag. Es sieht so leicht aus: Ich arbeite an meiner Trauer und dann ist sie weg, bin ich damit fertig.

Aber die Trauer arbeitet auch in mir, verändert mich. Ich habe nicht alles in der Hand, muss Dinge zulassen. Und das ist etwas, was wir „modernen“ Menschen nicht so gerne haben.


Trauer kann man als Heilungsprozess verstehen. Der braucht seine Zeit. Am Ende steht die Chance, den Verlust zu akzeptieren und das Neue anzunehmen, das Verhalten der veränderten Situation anzupassen.

Trauer – Wenn ich traurig bin, zeigt es, dass ich etwas sehr Schönes besessen habe. Ich bin dankbar für diese Zeit, fühle jedoch, wie zerbrechlich auch das sein kann, was mir jetzt bleibt.

Das Durchleben der Trauer kann mir helfen, persönlich zu wachsen und darüber zu neuen Lebenszielen, Lebenssinn und Zufriedenheit vorzustoßen.

Hier zitiere ich gerne noch einmal Pfarrer Gottfried Lutz:

In der Auseinandersetzung mit den Behinderungen bin ich der Mensch geworden, der ich bin. Insofern sind sie nicht gerade ein Segen, aber mein Leben empfinde ich trotzdem als gut und gesegnet.

Gibt es Todsünden beim Trösten? Vergleichen, bewerten von Trauer verbietet sich und ist nicht hilfreich. Die Trauer des kleinen Mädchens, dessen Lieblingspuppe von einem anderen Kind zerstört wird, ist nicht geringer als die Trauer der Mutter, die ihr Kind verloren hat. Für eine kurze Zeit ist diese Trauer vergleichbar stark, schmerzhaft, verstörend.

Dem Traurigen die Trauer nehmen wollen: Ist doch nicht so schlimm – Ach ja? Wer darf das denn beurteilen?

Leere Redensarten: Besser taub als blind – mag sein, aber taub reicht zum Traurigsein.

Falsche Ratschläge: Geh' doch einmal unter die Leute! (Wenn ich das aber einfach noch nicht kann!)

Nutzlose Appelle: Musst nicht soviel darüber nachdenken!

Unehrlichkeit: Schwerhörig bist Du, merkt man gar nicht! (So??? Warum atmest Du denn so tief ein, wenn Du für mich einen Satz noch einmal wiederholen musst?)

Jetzt ist das eingetreten, was ich befürchtet habe: Das Riesenthema ist in 90 Minuten nicht zu bewältigen. Das hatte ich allerdings auch nicht vor. Wichtig war mir, uns Alle etwas sensibler zu machen für unsere Traurigkeit in den verschiedensten Lebenssituationen, aber auch für die Trauer des Anderen.
Wenn wir es fertig bringen, das krampfhafte Festhalten

  • an den gewohnten Lebensumständen,
  • an unserem Image,
  • an unseren Vorstellungen von einem guten Leben

zu beenden, sind wir frei für etwas Neues, können wir diese Kraft, die durch das Klammern vergeudet wird, für etwas Gutes, Wohltuendes einsetzen.
Trauern ist der schmerzhafte Weg eines Heilungsprozesses. Es tut weh, aber wir können HEIL werden. Unsere Ohren sind zwar schlapp, aber WIR sind es nicht.

Ich hoffe, es war nicht allzu traurig, sondern hat auch Spaß gemacht. Am Niederrhein, wo ich geboren wurde, sagt man „Freud jeht vor en neu Hemd.“ Mit dieser Grundeinstellung kann man gut leben, nein, sollte man leben!

Nun möchte ich Ihnen von Herzen Dank sagen, dass ich hier in Pappenheim mit Ihnen zusammen sein durfte. Die Abfassung des Workshops war nicht immer leicht für mich. Eine Fülle von Material musste gebändigt werden, allerdings auch in meinem Kopf und meinen Gefühlen.

Für den schönen Nachmittag mit Ihnen und das Vertrauen, das Sie mir entgegengebracht haben, danke ich Ihnen von Herzen. Ich wünsche Ihnen noch viele gute Begegnungen hier in Pappenheim.


Die Kürze der Zeit für diesen Workshop – nur 90 Minuten blieben uns insgesamt – ließ mich befürchten, dass sich bei den TeilnehmerInnen einfach nichts bewegen konnte. Da sollte ich mich aber täuschen!


 

Das Thema ging unter die Haut, das spürte man deutlich. Hier war auch bei den Guthörenden ein starkes Engagement zu erkennen. Auch sie haben ihre Trauererlebnisse, das vergessen wir Schlappohren allzu leicht. Die Kleingruppen, die sich durch die Entscheidung für eines dieser Unterthemen gebildet hatten, brachten erstaunlich viele Gedanken zu ihrem Thema zusammen.

Ergebnisse der Gesprächsgruppen

1) Wie kann ich mir etwas Gutes tun, was tut mir gut in einer Situation der Trauer?

  • Musik hören
  • Selbst Musik machen
  • Gute Musik im Kopf haben
  • Gespräch mit vertrauten oder neutralen Personen
  • Ich kaufe mir was Schönes, tu mir selbst etwas Gutes
  • eine Blume mit nach Hause nehmen von der Trauerfeier
  • ein entsprechendes Buch lesen (je nach Anlass, Ursache der Trauer)
  • in den Arm genommen werden
  • Entspannungsübungen
  • Sport, Aggressionsabbau
  • wohl duftendes Bad nehmen
  • Gebet

2) Wie kann mir ein Anderer helfen, einen Verlust zu ertragen, zu verarbeiten oder sogar anzunehmen? Kann mir überhaupt jemand helfen beim Abschied nehmen?

  • Man wünscht sich jemand, der einem hilft, auffängt und annimmt.
  • Das sollte respektvoll geschehen und nicht aufdrängend.
  • Es kann sein, dass der Trauernde seine Ruhe haben möchte.
  • Wichtig, dass jemand da ist mit seiner Aufmerksamkeit, der die Not ansehen und ertragen kann.
  • Problem darf nicht klein geredet werden, nur der Trauernde kann seine Trauer verarbeiten.
  • Manchen fällt es schwer, um Hilfe zu bitten
  • Es kann Hilfe sein, dass man ins Gebet eingeschlossen wird.
  • Manche können nicht trauern, wollen zur Trauer hingeführt werden.
  • Es geht nicht darum Lösungen zu finden.

3) Welche Art von Hilfe will ich auf gar keinen Fall? („Todsünden“ des Tröstens)

  • Unangemessene Erwartungen an den Trauernden, die er nicht oder noch nicht bringen kann (weinen auf Kommando, entsprechende Trauermine)
  • Relativierung des Leides: deine Sorgen möchte ich haben!
  • Ich habe es sowieso schlimmer als du, warum jammerst du?!
  • Bemutterung, der Trauernde wird als Kind behandelt, darf nicht selbst entscheiden was er möchte, es wird ihm sein Verhalten vorgeschrieben
  • Die Trauer des anderen nicht ernst nehmen.
  • Patentrezepte!

4) Wie kann ich loslassen? Wie kann ich annehmen, was mir doch weh tut?

  • Wir wollen nicht gerne loslassen, es fällt uns schwer.
  • Loslassen ist wie eine Selbstaufgabe.
  • Es braucht eine sehr lange Zeit, um das zu verstehen, reif zu werden zum Loslassen
  • Wie kann ich annehmen, was mir wehtut?
  • Wer tut sich selbst gerne weh!
  • Warum können wir uns so schwer outen? Dadurch können wir schwer auf unsere Schwierigkeit hinweisen.
  • Auch wenn uns das Loslassen weh tut, kann es uns hinterher besser gehen.
  • Wenn das Loslassen geklappt hat, geht es uns hinterher besser.

5) Wie kann ich einem anderen Menschen dabei helfen, Zeichen geben, MEINE Trauer mitzutragen?

  • Spontan anrufen
  • Email schreiben
  • Zum Kaffee einladen
  • Sagen, wie es mir geht
  • Zeit lassen, Gefühle zu zeigen und zu leben
  • Mut machen, Hilflosigkeit zuzulassen
  • Ich lasse ihm Zeit, dass er sich auch später für mich Zeit nimmt
  • Gemeinsames Gebet
  • Frage, ob ich mich später bei ihm melden kann

Für mich ist das Thema Verlust – Abschied – Trauer nach wie vor aktuell. In vielen Gesprächen mit Bekannten und Freunden, ehrlich gesagt, es waren ausschließlich Frauen, die sich darauf einließen, habe ich gespürt, dass dies ein elementar menschliches Grundthema ist. Ich würde mich riesig freuen, wenn es Euch, die FORUM-LeserInnen, anregt, Eure Gedanken zu diesem Thema, Erlebnisse, egal ob gute oder auch verletzende, Kritik am Referat selber usw. an die Redaktion des FORUM oder an mich zu senden. Bitte dabei auch angeben, ob es veröffentlicht werden darf oder nicht.

Wenn Sie wünschen, können Sie gern direkt Kontakt mit der Autorin Dagmar Terporten per E-Mail aufnehmen.

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