Artikel aus FORUM 28, Winter 2007, Seite 46 ff
Wie viel kann man doch mit dem Herzen hören! Doch bis es zu dieser Erkenntnis kommt, legt eine schwerhörig gewordene Sängerin eine weite Strecke zurück.
Sie beschreibt Momente der Verzweiflung, des Aufbäumens, hilfreiche Begegnungen in verschiedenen Seminaren und ihre kreativen Wege, um die widerstreitenden Gefühle zu verarbeiten.
Eine schwerhörige Sängerin
von K.S.
Die Worte explodierten und ließen Lücken
und ein zerstörtes Wesen hinter sich.
Die Frau versuchte, die Zerstörung im Rahmen zu halten
– stellte Fragen, versuchte, die Antworten zu verstehen, verabschiedete sich von dem Arzt
– draußen brach sie zusammen.
Mit zitternden Händen saß sie am Steuer. Eine Dreiviertelstunde Heimfahrt, zu gefährlich. Nicht ratsam, ausgeschlossen.
Sie stieg aus dem Auto und lief mit tränengefüllten Augen weg, weg von der Vergangenheit und ihren unerfüllten Träumen, in eine unsichere, unfaßbare Zukunft.
Wieder einzusteigen als Opernsängerin. Unmöglich. Ausgeschlossen.
Musik wurde zur Quälerei.
Die Töne, noch zu hören, stießen
Immer wieder an ihre wunden Stellen,
Rissen sie auf und ließen die Frau
Schwach, untauglich zurück.
Sie las ihre Worte durch, dramatische Worte, aber ehrliche.
Nun, ganz alleine, versuchte sie, zurechtzukommen.
Zurechtkommen mit der neuen Situation
Sie las und malte und schrieb, bis die Schmerzen etwas erträglicher wurden. Sie versuchte einfach weiterzusingen, aber mit durch Hörgeräte verstopften Ohren war ihre Stimme zu laut, schrecklich laut und hässlich.
Sie hatte das Gefühl, dass sie dadurch ertauben könne. Sie würde also ohne Hörgeräte singen, und zwangsweise eben ohne Begleitung. Was blieb dann für sie übrig? Sie war nun ein Mensch, für den Musik machen, diese unersetzliche Kommunikationsform, nicht mehr möglich war? Sie schrieb mehr und mehr, malte düstere Bilder und weinte – manchmal tagelang. Ihre Familie, mitleidend, konnte ihr nicht helfen.
Allein fühlte sie sich mit ihren verräterischen Ohren. Und sie begann sich zu isolieren, von ihren Freunden, ihrer Familie, vom Leben.
Sicher, sie erfüllte weiter ihre Pflichten, aber ohne Lust, ohne Freude. Sie erfüllte diese Verpflichtungen, leitete weiter den Chor (mit verstopften Ohren ging es), hörte Kindern und Mann zu, führte weiter den Haushalt, aber wozu? Lustlos und leer, depressiv, ohne Ziele.
Dann, eines Tages, aus Verzweiflung, sprach sie einen Mitbetroffenen an. Er wollte sie für den DSB interessieren. EIN ALPTRAUM! Zu offenbaren, dass sie, eine Musikerin, schwerhörig war? Wie peinlich. Ein Schaudern lief ihr über den Rücken. (Der erste Besuch beim Akustiker war schwer genug, oder nicht?) Sein Vorschlag war so schlimm, dass sie sich allmählich ohne Hoffnung, ohne Perspektive und ohne Rat fühlte.
Endlich gab ihr der schwerhörige Mann eine Zeitschrift in die Hand. Ein Kongress für Schwerhörige sollte in Köln stattfinden, mit einem Seminar über „Eine Oase in der Wüste“. Da sah sie ihre Chance, anonym zu erfahren, wie sie sich selber helfen könne. Sie meldete sich an.
Im Zug dahin weinte sie schon. Im Zimmer und im Seminar auch. Der Leiter des Seminars behauptete, dass sie nur den Applaus und Anerkennung vermisse. Er verstand nichts von ihrem eigentlichen Problem, war aber frei genug, ihr seine Verurteilung zu schenken. Er brachte sie in die Wüste, aber nicht zur Oase. Keine Zeit.
Aber trotzdem hatte die Frau in Köln ein Geschenk bekommen. Sie lernte dort zwei Frauen kennen. Eine sprach lange mit ihr, oder besser - hörte ihr lange zu, und die andere besuchte sie mit ihrem Mann, der Verwandte in der Umgebung hat, sogar zu Hause. Die beiden brachten auch eine Zeitschrift mit, FORUM, ebenfalls mit einem Seminarangebot. Die Frau aus Köln sagte einfach, dass sie daran teilnehmen würde, und wäre es nicht schön, einander in Bad Grönenbach zu treffen?
Nachdenklich und neugierig geworden las die schwerhörige Sängerin die Zeitschrift von vorne bis hinten durch. Und dann noch einmal. Es gefiel ihr, die Art und Weise, in der sie geschrieben war, die persönlichen Beiträge, die Berichte, die Gedichte. Abgesprochen mit ihrem Mann, meldete sie sich an und wurde damit DHS-Mitglied. So war das Seminar günstiger, und sie konnte auch die Zeitschrift regelmäßig bekommen.
In Gesellschaft mit anderen Schwerhörigen
Ein schönes Fax der Vorsitzenden fragte „den Herrn“, woher „er“ die Informationen bekommen habe und wer „er“ sei. Sie fand es lustig, aber auch ganz schön, und lächelte dabei, als sie schrieb, dass sie eine Frau sei, trotz ihres Namens Kay.
In Bad Grönenbach, dem Seminarort, wurde sie von allen sehr herzlich willkommen geheißen. Zusammen mit der Kölner Frau fühlte sie sich auch sicher, nicht allein. Sie war inmitten einer Gesellschaft, von „Schlappohren“ umringt! Manche hatten ähnliche Probleme wie sie, andere waren schon viel weiter mit Problemlösungen, mit dem Verstehen und dem Akzeptieren der Situation. Das Seminar war schön, behilflich, aber die arme Frau weinte trotzdem jeden Abend in ihrem Zimmer, immer wieder. Wieso?
Schließlich wurde sie aber aktiv im DSB als Beisitzerin im Vorstand (neugierig wollte sie wissen, was diese Organisation sei und wie sie mithelfen könne) und auch in der DHS. So schön war es für sie, mindestens einmal im Monat in einer Gruppe zu sein, wo diszipliniert miteinander gesprochen wurde. Klar und deutlich – es ging, sie konnte doch Gespräche auf Deutsch führen. Toll! Eine heilende Kraft ergriff Besitz von ihr.
Mit Freude ging sie zum nächsten Seminar, aber unerklärlicherweise weinte sie wieder, wie peinlich. Warum?
Trauer zulassen
Am Ende sprach sie mit einem sehr „männlichen“ Mann und entschuldigte sich für ihr Verhalten. Er fragte sie,' wieso?' und sagte, es sei ganz natürlich, traurig zu sein; dies bedeute, dass die Trauerarbeit noch nicht zu Ende war. Trauerarbeit? Welche Trauerarbeit?
Beim nächsten Seminar blieb sie weg. Sie wollte nicht wieder vor allen weinen. Sie wusste, dass es ihr eigentlich gut ging. Sie brauchte doch keine Angst zu haben um ihre Existenz. Sie hatte einen liebevollen Mann, nette und gesunde, fleißige Kinder, ein schönes Zuhause und wusste nicht, was sonst mit ihr los war.
Warum konnte sie ihre Situation einfach nicht akzeptieren? Nein. Noch mal so vor allen zu stehen? Nein, das kam nicht in Frage, nicht vor der Reha, dann würde sie sich mit allem auseinandersetzen. Punkt. Und das tat sie auch. Eine Reha in Bad Grönenbach.
Aufbauen, Informieren - und Singen als Therapie
Die vier Wochen dort bauten sie auf. Sie bekam Informationen über Tinnitus und Schwerhörigkeit und deren begleitende Symptome. Sie hatte Gymnastik, Massagen, Gruppentherapie, Einzelgespräche (eine Freundschaft mit einer schwerhörigen Frau, die bis heute besteht) und Entspannungsgymnastik. Und sie schrieb weiterhin und malte und weinte viel; Trauerarbeit für das, was sie nicht mehr hatte und nicht mehr konnte.
Aber überraschenderweise entdeckte sie noch etwas. Das Singen. Als Therapie. Unglaublich. Sie brauchte einfach nur zu singen. Für sich. Alleine. Also übte sie einfach jeden Tag in irgendeinem freien Zimmer der Klinik. Gut war es und wichtig.
Gut war es auch deshalb, weil sie bereits im Jahr zuvor, als sie am Stand an der Reha-Messe war, einen Akustiker kennen lernte, der von einem Hörgerät wusste, mit dem sie möglicherweise singen UND ihren Begleiter hören konnte. Nach einem langen Jahr des Ausprobierens kaufte sie wirklich ein solches Gerät.
Billig war es nicht, und ihre Stimme klang durch die technischen Instrumente nicht so voll, wie sie sie hören mochte. Aber das Loch in ihr wurde überbrückt, sie konnte wieder musizieren, in anderen Worten, durch die Musik wieder kommunizieren.
Eine andere Brücke wurde zum Glück schon gebaut, aus Worten und Farben, und vor allem von vielen wunderbar mutigen Musterbeispielen von netten, teilweise weisen, offenen und engagierten Menschen - den DHS-Schlappohren. Nun ging es der Frau wirklich besser.
Sie erwartete nicht, wieder in ihre Karriere einsteigen zu können, aber sie konnte wieder etwas Wichtiges machen, musizieren. Eine Tatsache wurde ihr klar: Ihre Ohren waren keine Verräter, sie waren einfach großartig! Viele Fragen sind noch offen, aber sie kämpft.
Es gibt noch immer gute und schlechte Momente, aber sie kämpft.
Welche Ziele, welche Wege soll sie gehen – noch unklar. Aber sie kämpft. Vielleicht, eines Tages, wird sie wieder träumen, einen neuen Weg finden …
Klingt wie ein Märchen, was?
Also, nach einer so langen Geschichte wissen diejenigen, die mich schon kennen, wer ich bin – auch wenn diese Geschichte viel zu kurz ist, um alles zu erwähnen, alle Probleme, Hilfspersonen, Lösungen usw.
Ich möchte mich hier an dieser Stelle bei Euch allen (Ihr wisst, wer Ihr seid!) bedanken. Ich freue mich, mit Euch in der DHS zu sein; an dem Spaß und dem Lachen, an dem Austausch von Informationen und Erfahrungen, an den heldenhaften Taten, an den offenen Ohren und an den weit offenen Herzen. Ihr habt mich, eine ziemlich verrückte, weinende Amerikanerin mit offenen Armen begrüßt. Ihr habt mir gezeigt, wie wir unsere Kommunikationsmöglichkeiten durch „Hände (LBG) und Füße“ erweitern können.
Manchmal erkannte ich auch, wie unwichtig diese Formen eigentlich sind, denn man „hört vor allem mit dem Herzen“. Unglaublich, nicht wahr, wie viel man mit dem Herzen hören kann!
Ich danke Euch – bin noch am „Werden“. Geduld – wird noch dauern.
Eure Kay