Zurechtkommen mit der neuen Situation
Sie las und malte und schrieb, bis die Schmerzen etwas erträglicher wurden. Sie versuchte einfach weiterzusingen, aber mit durch Hörgeräte verstopften Ohren war ihre Stimme zu laut, schrecklich laut und hässlich.
Sie hatte das Gefühl, dass sie dadurch ertauben könne. Sie würde also ohne Hörgeräte singen, und zwangsweise eben ohne Begleitung. Was blieb dann für sie übrig? Sie war nun ein Mensch, für den Musik machen, diese unersetzliche Kommunikationsform, nicht mehr möglich war? Sie schrieb mehr und mehr, malte düstere Bilder und weinte – manchmal tagelang. Ihre Familie, mitleidend, konnte ihr nicht helfen.
Allein fühlte sie sich mit ihren verräterischen Ohren. Und sie begann sich zu isolieren, von ihren Freunden, ihrer Familie, vom Leben.
Sicher, sie erfüllte weiter ihre Pflichten, aber ohne Lust, ohne Freude. Sie erfüllte diese Verpflichtungen, leitete weiter den Chor (mit verstopften Ohren ging es), hörte Kindern und Mann zu, führte weiter den Haushalt, aber wozu? Lustlos und leer, depressiv, ohne Ziele.
Dann, eines Tages, aus Verzweiflung, sprach sie einen Mitbetroffenen an. Er wollte sie für den DSB interessieren. EIN ALPTRAUM! Zu offenbaren, dass sie, eine Musikerin, schwerhörig war? Wie peinlich. Ein Schaudern lief ihr über den Rücken. (Der erste Besuch beim Akustiker war schwer genug, oder nicht?) Sein Vorschlag war so schlimm, dass sie sich allmählich ohne Hoffnung, ohne Perspektive und ohne Rat fühlte.
Endlich gab ihr der schwerhörige Mann eine Zeitschrift in die Hand. Ein Kongress für Schwerhörige sollte in Köln stattfinden, mit einem Seminar über „Eine Oase in der Wüste“. Da sah sie ihre Chance, anonym zu erfahren, wie sie sich selber helfen könne. Sie meldete sich an.
Im Zug dahin weinte sie schon. Im Zimmer und im Seminar auch. Der Leiter des Seminars behauptete, dass sie nur den Applaus und Anerkennung vermisse. Er verstand nichts von ihrem eigentlichen Problem, war aber frei genug, ihr seine Verurteilung zu schenken. Er brachte sie in die Wüste, aber nicht zur Oase. Keine Zeit.
Aber trotzdem hatte die Frau in Köln ein Geschenk bekommen. Sie lernte dort zwei Frauen kennen. Eine sprach lange mit ihr, oder besser - hörte ihr lange zu, und die andere besuchte sie mit ihrem Mann, der Verwandte in der Umgebung hat, sogar zu Hause. Die beiden brachten auch eine Zeitschrift mit, FORUM, ebenfalls mit einem Seminarangebot. Die Frau aus Köln sagte einfach, dass sie daran teilnehmen würde, und wäre es nicht schön, einander in Bad Grönenbach zu treffen?
Nachdenklich und neugierig geworden las die schwerhörige Sängerin die Zeitschrift von vorne bis hinten durch. Und dann noch einmal. Es gefiel ihr, die Art und Weise, in der sie geschrieben war, die persönlichen Beiträge, die Berichte, die Gedichte. Abgesprochen mit ihrem Mann, meldete sie sich an und wurde damit DHS-Mitglied. So war das Seminar günstiger, und sie konnte auch die Zeitschrift regelmäßig bekommen.