Die Behinderung als Teil von mir

Inzwischen war ich auf dem linken Ohr praktisch taub und hatte rechts noch ein Resthörvermögen von ca. 30%. In vielen Gesprächssituationen hatte ich damit praktisch keine Chance. Aber das war mir überhaupt nicht klar. Schon bald saß ich wieder ganz weit vorne auf der Stuhlkante... und der Stress kam nicht mehr durch das Vertuschen der Behinderung, sondern durch das „Ach-so-gute-damit-Umgehen“.

Machen wir an dieser Stelle eine kurze Zäsur. Was ist das wohl für ein Bild, das Sie sich bisher von dieser Anne Jung gemacht haben? Ziemlicher Dickkopf? Leistungsorientiert und mit hohen Ansprüchen? Widersprüchlich und manchmal unsicher? Stimmt alles und alles trug letztendlich dazu bei, dass ich in den mir vertrauten Verhaltensmustern blieb – obwohl sich doch die Voraussetzungen und – so dachte ich zumindest – mein Bewusstsein dafür geändert hatten. In Wahrheit verhielt ich mich wie jemand, der einen wenig geliebten, weil behinderten Zwilling mit sich herumschleppte – den ich zwar ab und zu an Licht holte – aber nur, um ihm meine ganze unverminderte Leistungsorientierung zuzumuten. Trotz der zurückgelegten Strecke war ich offenbar noch immer weit davon entfernt, meine Behinderung tatsächlich als Teil von mir zu akzeptieren.

Die Situation spitzte sich zu nach einem Arbeitsplatzwechsel von Köln nach Frankfurt. Ich stürzte mich kopfüber in die neue Arbeit – und wollte – ohne Rücksicht auf meine Schlappohren – wieder Mal beweisen, dass ich mithalten kann. Hörbehindert? Ja – aber (immer noch) kein Problem! Und dann kam alles auf einmal: in kurzer Zeit waren neue Arbeitsabläufe zu lernen und eine neue „interne Sprache“;

Wie schafft man Anschluss bei neuen Kollegen, wenn man, an den rheinischen SING-SANG gewöhnt, schon den hessischen Dialekt als eine kaum zu überwindende Kommunikationshürde erlebt?!

Besprechungen mit vielen Teilnehmern häuften sich – alte, überwunden geglaubte Frusterlebnisse wiederholten sich: Während die Kollegen neben mir schon gute Antworten parat hatten, war ich oft noch dabei, überhaupt erst mal das Thema zu verstehen. So etwas knabbert mächtig am Selbstbewusstsein.

Was war denn nun mit meinem Großmaul-Satz:

„Die Ohren sind schlapp – aber dazwischen funktioniert es noch!“??

Stimmte das überhaupt noch? Mir wurde klar, dass ich meine Arbeit bisher trotz hochgradiger Hörbehinderung nur geschafft hatte, weil ich mich an meinem alten Arbeitsplatz „BLIND“ auskannte: was ich akustisch nicht mehr ganz mitbekam, konnte ich durch Kombinieren von Zusammenhängen ausgleichen.

Das alles konnte in einer neuen Umgebung zwangsläufig nicht klappen – und ich war unheimlich erschrocken über diese Erkenntnis. Zum ersten Mal spürte ich wirklich Angst und Zweifel, wie es weiter gehen sollte. Ich spürte auch meine Überforderung – aber ich konnte sie einfach nicht zugeben.

Statt dessen versuchte ich noch mehr zu arbeiten, mich noch besser vorzubereiten, vorauszuschauen – und – frei nach Watzlawik – bekam ich auch immer mehr vom selben: Mehr Anspannung und mehr Verzweiflung; Tinnitus-Beschwerden, wie ich sie noch nie im Leben hatte, waren zuletzt an der Tagesordnung. Alles in allem brauchte ich fast ein Jahr, um einzusehen, dass ich dabei war, mich an den Rand meiner physischen und psychischen Grenzen zu katapultieren. Und wie eine Wiederholung der Geschichte, standen wieder die Fragen im Raum: Was bist Du für Eine? Warum sagst Du gar nichts?

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