Um das beklemmende Gefühl wieder los zu werden, könnten Sie an dieser Stelle jetzt den Zaubersatz sagen:
„Ja, aber es gibt doch heute so gute Technik!!“
Womit wir die Überleitung geschafft hätten (Sie hören wieder gut und ich bin schwerhörig) und wir reden über Technik – ich gebe es zu, nicht gerade mein Lieblingsthema wenn es um Schwerhörigkeit geht. Und das hat gar nix mit „Frauen und Technik“ zu tun – mein Unbehagen hat eher mit dem „Zaubersatz“ zu tun, der uns Schwerhörigen so oft wie die Lösung allen Übels entgegen gehalten wird.
Das unsichtbare Hörgerät
Und wenn man sich die Werbung für Hörgeräte einmal genauer anschaut, dann versteht man auch, wie das kommt: hier wird der Eindruck vermittelt, dass mit einem selbstverständlich „diskreten“, „so gut wie unsichtbarem“ Hörgerät „wieder gut Hören“ praktisch problemlos möglich ist. Zum Beweis gibt es dann die Abbildung von „glücklichen“ Menschen „mitten im Leben“ ... also z.B. in lockerer Runde beim Bier, in Besprechungen am Arbeitsplatz und bei fröhlichen Familienfesten.
Wenn ich nicht schon selbst die gleichen Situationen ziemlich anders erlebt hätte, würde ich bestimmt genauso wie die meisten Guthörenden glauben, dass das Problem Schwerhörigkeit mit der Anpassung eines Hörgerätes oder jetzt zunehmend durch eine CI-Operation doch ganz einfach aus der Welt zu schaffen ist. Nach dem Motto: hier gibt es ein Problem ... und das ist die Lösung!!
Ich habe den Eindruck und die Sorge, dass solche Botschaften das Problem der Schwerhörigkeit eher verschärfen: Und zwar einerseits, weil sie bei den ohnehin irritierten und verunsicherten Betroffenen haushohe Erwartungen wecken, die dann oft enttäuscht werden – trotz teuerster HIGH-TECH-Technik. Und zum anderen führen solche Darstellungen auch bei den Guthörenden dazu, dass das wahre Ausmaß der Behinderung nicht verstanden oder zumindest falsch eingeschätzt wird.
Die Folge ist: Demotivation bei den Betroffenen („Nützt ja doch alles nix“) und Unverständnis bis zuweilen auch Ungeduld beim Umfeld („Wieso verstehst Du jetzt nix: Du hast doch jetzt ein Hörgerät?!“)
Gute Technik für Schwerhörige ist wichtig. Aber sie ist nach meiner festen Überzeugung keine Lösung für das GANZE Problem. Weil schwerhörig sein eben sehr viel MEHR bedeutet als ein nicht mehr ausreichend funktionierender Informationsfluss vom Ohr zum Gehirn; etwas salopp und vor allem bildlich ausgedrückt:
An den „schlappen Ohren“ hängt ein GANZER Mensch.
Und mein Anliegen ist, dass er sichtbar wird. Und dass klar wird, dass er mit seiner Schwerhörigkeit oft viel tiefer gehende Probleme und viel mehr Fragen hat, als er an (technischen) Antworten allein bekommen kann. Ich möchte versuchen, Sie für diese Idee „vom GANZEN“ zu sensibilisieren, die der engl. Arzt und Schriftsteller, Oliver Sacks, einmal so ausdrückte, dass er sich nicht die Krankheit eines Menschen anschaut, sondern den Menschen, der diese Krankheit hat. Ob Krankheit oder Behinderung, ob Schwerhörigkeit oder Tinnitus-Belastung – ich glaube nicht, dass das den Unterschied ausmacht. Das Wesentliche ist die Sichtweise.
Beispiel: SOFIE – Ende 20
Machen wir es doch einmal wie Oliver Sacks und schauen uns einen MENSCHEN an, der schwerhörig ist: Stellen Sie sich bitte eine junge Frau vor von Ende 20 – nennen wir sie SOFIE.
Sofie ist glücklich verheiratet und steht beruflich in viel versprechenden Startlöchern... Eher zufällig entdeckt sie, dass sie Probleme mit dem Hören hat. Das passt natürlich nicht zu JUNG – DYNAMISCH – ERFOLGREICH ... und so verschwindet das Thema in der Versenkung. Auswirkungen in Familie und Beruf – ach wo ? Bei SOFIE doch nicht!!
Aber schon bald half alles Leugnen nichts mehr: sie trug ihr erstes Hörgerät – mit Todesverachtung und selbstverständlich gut versteckt unter ihrer Haarpracht. Ihre Abneigung gegen dieses ungewohnte „Ding“ lag wohl auch daran, dass sie überhaupt nicht wusste, wie sie mit der veränderten Situation umgehend sollte: Ihre Umwelt war zwar wieder lauter wahrnehmbar – aber verstand sie jetzt auch mehr? Mal ja – mal nein. Warum war das so unterschiedlich? Sie wusste es nicht und mit dieser Unsicherheit kam sie überhaupt nicht klar. Aber weil nicht sein kann, was nicht sein darf, mogelte sie sich weiter mehr schlecht als recht durch den Alltag: „Alle Welt“ erwartete aber nun selbstverständlich, dass sie mit dem Hörgerät jetzt wieder „normal“ sei – und sie selbst erwartete es natürlich auch.