Artikel aus FORUM 22, Dezember 2004, Seite 33 ff

In ihrem Vortrag beim zweiten Süddeutschen Tinnitus-Symposium der Deutschen Tinnitus-Liga e.V. (DTL)am 2. Oktober 2004 in Gersthofen berichtete Anne Jung über ihren persönlichen Weg bis zum Anerkennen der Behinderung "Schwerhörigkeit": von der "perfekten Normalhörenden" und "perfekten Schwerhörigen" bis zur individuellen Entwicklung eines "schlappohrengerechten" Arbeitslebens.

Meinung einer FORUM-Leserin:

„Das könnte ich aufgeschrieben haben! Dies ist ja genau MEINE Geschichte!“

„Ein ganzer Mensch“ – Schwerhörigkeit und ihre Folgen

 von Anne Jung, Pulheim

Über die Schwerhörigkeit, vor allem auch im medizinisch-therapeutischen Zusammenhang mit einer Tinnitus-Belastung, ist schon bei verschiedenen Veranstaltungen und Vorträgen sowohl durch die DTL als auch durch Vertreter der Klinik „Am Stiftsberg“ eingehend berichtet worden. Ich bin froh und danke Ihnen für die Gelegenheit, das Thema heute einmal etwas anders und aus der Sicht einer Betroffenen darstellen zu dürfen. 

HÖREN und VERSTEHEN

Statistisch gesehen hat inzwischen fast jeder fünfte Bundesbürger mehr oder weniger große Probleme mit dem Hören und Verstehen. Wenn ich mir in diesen Tagen unser Land anschaue, dann scheint die Zahl derjenigen die Manches nicht mehr HÖREN und das Meiste auch nicht mehr VERSTEHEN können, wahrscheinlich noch sehr viel größer zu sein – aber ich glaube: das hat wohl nichts mit Schwerhörigkeit zu tun. HÖREN und VERSTEHEN – um diese beiden Begriffe dreht sich meistens alles, wenn über Schwerhörigkeit gesprochen wird. Man könnte fast sagen, dass das Problem reduziert wird auf diese beiden Fähigkeiten eines Menschen – die ja in dem Zusammenhang wohl eher „Unfähigkeiten“ sind. Ich möchte zeigen, dass es bei einer Hörbehinderung um mehr geht als SCHWER HÖREN und WENIG VERSTEHEN und ich möchte Berührungsängste abbauen. Überträgt man die Statistiken zur Schwerhörigkeit auf dieses Auditorium mit gut 150 Gästen, wäre also die Wahrscheinlichkeit recht hoch, dass einige von Ihnen entweder selbst betroffen sind, oder zumindest einen Schwerhörigen in der Familie, in der Selbsthilfegruppe oder am Arbeitsplatz kennen. Dabei könnten Sie beobachten, dass die Einstellung zur Behinderung und der Umgang damit sehr verschieden ausfällt.

Bedingungen der Schwerhörigkeit

Das liegt zunächst einmal an äußeren Faktoren, z.B. daran, wie die Schwerhörigkeit ausgeprägt ist, also ob jemand, leicht-, mittel- oder hochgradig schwerhörig ist; dann macht es auch einen Unterschied, ob man als hörbehinderter Mensch geboren wird, damit aufwächst und so ganz zwangsläufig anders lernt, mit dieser Einschränkung zu leben, als jemand, der im Erwachsenenalter plötzlich und womöglich sogar noch fortschreitend mit dieser Behinderung konfrontiert wird. Neben diesen objektiven Bedingungen gibt es aber noch weitere, mehr subjektive Gründe, warum Schwerhörigkeit unterschiedlich erlebt und bewältigt wird.

Ich möchte Sie für ein paar Minuten in Ihre Vorstellungskraft entführen. Überlegen Sie bitte einmal ganz konzentriert: Wie wäre das für Sie, wenn Sie jetzt, in diesem Moment meine Stimme nur mit ganz viel Anstrengung - wie durch einen riesigen Wattebausch ... oder vielleicht sogar GAR NICHT MEHR wahrnehmen könnten?

Wenn Sie Ihren Sitznachbarn fragen: „Was ist passiert? Sind jetzt hier die Lautsprecher ausgefallen?“ – und Sie seine Antwort auch nur kaum oder gar nicht mehr hören könnten? Wie würden Sie sich fühlen? WAS würden Sie fühlen? Unsicherheit? Angst? Panik? Und welche Fragen würden dann in Minutenschnelle in Ihrem „Kopfkino“ auftauchen?

„Was mache ich jetzt bloß?“
„Wie soll ich mich orientieren??“
„Was passiert, wenn das so bleibt...?“

Was glauben Sie: Würden Sie in einer solchen Situation über Ihre Ohren nachdenken?

Oder zeigt Ihnen die bloße Vorstellung davon schon, dass dieses Problem durchaus in der Lage ist, Sie von Kopf bis Fuß zu erfassen?
Und dass Sie schlagartig vieles in Frage stellen, was bis gerade eben noch so selbstverständlich war, dass Sie keinen Gedanken daran verschwendet haben?

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