Schwerhörig - Warum schäme ich mich meiner Schwerhörigkeit?

Viele Behinderungen erzeugen Mitleid, Anteilnahme, bei Hörschädigung ist dies weniger der Fall. So ist unsere Behinderung nicht augenfällig, schwer nachvollziehbar, das Wort schwerhörig ist zudem negativ besetzt. Die Schwerhörigkeit wirkt oft sogar lächerlich – ähnlich wie bei einem Stotterer.
Beide Behinderungen werden auch gerne in einer Komödie oder bei Witzen verwendet.

Zudem erzielt unsere Behinderung sehr wenig Mitleid; darauf verzichten wir ja auch gerne, aber leider begegnet man uns auch mit weniger Mitgefühl und Rücksichtsnahme als einem Rollstuhlfahrer oder Blinden. Diese umgibt eine Aura von Tragik, bei uns ist es eher das Komische…

Wenn ich etwas nicht verstehe, trotz Nachfragens zum zweiten Mal, zum dritten Mal nicht verstehe, bricht mir der Schweiß aus. Ich konnte doch immer hören, es muss doch klappen! Ich genüge meinen eigenen und auch fremden Ansprüchen nicht mehr und schäme mich. Dann sage ich schon einmal einfach JA. Dann hat man meistens Ruhe und es fällt nicht so auf, dass man wieder einmal – vielleicht auch nach mehrmaligem Nachfragen – nichts verstanden hat.
So kam ich beim Friseur ungewollt zu einer Dauerwelle. Seitdem mache ich dies nicht mehr so häufig.

Ich will so leben wie vorher, wie fast alle anderen und damit fängt mein Denkfehler an. Jetzt läuft durch meine falsche Scham einiges aus dem Ruder. Das Verbergen unserer Schwerhörigkeit bringt uns – natürlich nicht Alle!!! - auch gerne dazu, tolle Schauspieler und erfindungsreiche Lügner zu sein.
Witz nicht verstanden? Ich lache trotzdem. Es sieht einfach blöde aus, wenn alle sich vor Lachen biegen und ich regungslos daneben sitze. Es kann jedoch auch sein, dass ich einfach die gute Stimmung genieße und von Herzen mitlache.

Peinlich war es bei einer Bekannten, die überhaupt nichts verstanden hatte und ebenfalls einfach mitlachte. Leider hatte die gut hörende Nachbarin die Pointe auch nicht verstanden und meine Bekannte gefragt: “Was hat der gesagt?“

Besonders schwierig ist es – dass wissen alle hier, die schwerhörig sind wie ich – am Telefon. Da wir den Mund des Anrufers nicht sehen können, ja noch nicht einmal wissen, wer uns anruft und was er von uns will, stehen wir vor einem Problem, wenn wir den Namen des Anrufers nicht verstehen. So erging es mir auch einmal.

Mein Mann, der üblicherweise zuerst ans Telefon geht, war nicht da, also musste ich abheben. Den Anrufer verstand ich nicht, allerdings hörte ich neben Unverständlichem den Vornamen meines Mannes. Aha, also war jemand am Apparat, der meinen Mann sprechen wollte. Da er ihn mit seinem Vornamen benannte, nahm ich an, dass es ein Bekannter war. Also duzte ich ihn auch, ohne zu sagen, dass ich überhaupt nicht wusste, mit wem ich sprach. Damit ich den Anruf möglichst kurz halten konnte, bat ich, später wieder anzurufen, wenn mein Mann zurück war.
Nun wurde es peinlich: Der Anrufer war mein Mann. Ich hätte vor Scham in den Boden versinken mögen, obwohl er mir sagte, dass das doch nun wirklich nicht schlimm war. Für mich war es schlimm, sehr schlimm.

Auch der Familienangehörige schämt sich häufig der Schwerhörigkeit.

So war es für die vierzehnjährige Tochter einer ebenfalls schwerhörigen Bekannten ganz schön peinlich, als Mutter ihr bei einer Gesellschaft etwas ins Ohr flüsterte, aber aufgrund ihrer Schwerhörigkeit so laut sprach – sie hört ja ihre eigene Stimme verfremdet – dass alle anderen, für die es ja gar nicht bestimmt war, mithören konnten.
Unangenehm für meine Söhne, wenn ich ihre Freunde nicht, schlecht, falsch verstehe. Auch ich habe mich geschämt, wenn meine ebenfalls schwerhörige Mutter der Verkäuferin nichts oder etwas äußerst Unpassendes zu einer höflichen Frage geantwortet hatte.

Ich kann mittlerweile locker mit einem Fremden über meine Schwerhörigkeit sprechen, das habe ich geschafft. Aber ich möchte Ihnen jetzt meine extremen Schwierigkeiten nahe bringen, meine Hörbehinderung vertrauten Menschen aus meiner „normal hörenden“ Zeit einzugestehen.

Während der Gymnasialzeit habe ich neun Jahre engen freundschaftlichen Kontakt zu einem Mitschüler gehabt. Diese Verbindung ist auch nie beendet worden. Er war Arzt in Waldshut, und nach einem Treffen der beiden Familien, seiner und meiner, habe ich ihm einen Brief geschrieben und bin auch – zum ersten Mal in meinem Leben – kurz auf meine Schwerhörigkeit eingegangen. In seinem Antwortbrief berührte er das Thema überhaupt nicht. Ich nahm an und glaube dies immer noch, er wollte mir nicht wehtun und er umging deshalb diesen Punkt. Seitdem habe ich dann nie mehr den Mut aufgebracht, ihm meine Gefühle zu dieser Behinderung mitzuteilen und habe seine letzten beiden Briefe – immerhin ca. acht Jahre her – nicht beantwortet.

Nun habe ich vor, die Steine, das ganze Geröll, das auf meiner Seele liegt, beiseite zu räumen und ihm einen klaren Brief zu schreiben, vor dem er sich nicht drücken kann: Ich bin nicht mehr wie früher, ich bin schwerhörig, aber ich bin immer noch ich! Danach bin ich auch wieder in der Lage, die vertraute Beziehung aufzunehmen. Es soll keine Schuldzuweisung sein, die Schuld liegt bei mir! ICH hätte klarer und unmissverständlicher schreiben oder sprechen müssen, dann wäre es ihm leichter gefallen, darauf einzugehen.

Ist die Scham denn NUR überflüssig und hemmend?

Nein, sicher nicht. Wie ich schon sagte, hilft uns die Scham unsere Würde zu schützen. Wenn ich weiß, dass ein Mensch mich nicht schätzt, eine Schwachstelle sucht, sich darüber innerlich freut, sie vielleicht ausnutzen könnte, ist die Gefahr, dass er mich herabsetzen, verletzen könnte, sehr groß und es wäre unklug, ihm die Schattenseiten meines Lebens zu zeigen. Er könnte dies benutzen, mich zu verachten, mir zu schaden. Aber die meisten Leute stehen uns neutral oder sogar positiv gegenüber. Da darf ich es ruhig wagen, die Igelstacheln einzufahren und meinen weichen Bauch zu zeigen.

Wir brauchen keine Behinderung, um aus Scham zu schauspielern, zu lügen, zu bagatellisieren. Wer kennt das nicht, wenn man sich schützend vor familiäre Probleme stellt und sagt „Alles in Ordnung.“ Wir können in akuten Krisen kaum zugeben, dass der Sohn vielleicht sitzen bleibt, der Ehemann arbeitslos ist, die Ehe kriselt, das Geld knapp ist o. ä.

Wenn ich ein Bild aus der Bibel benutzen darf: Als Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben wurden – sie wollten sein wie Gott und vom Baum der Erkenntnis essen – erkannten sie auf einmal, dass sie nackt, dass sie bloß waren. Sie waren bloß Menschen und schämten sich. Sie bedeckten ihre Blöße.

Wir möchten sicher nicht sein wie Gott, aber möchten doch am liebsten vollkommen, fehlerfrei, Gewinnertypen sein. Wenn wir erkennen, dass es nicht an dem ist, dass wir bloß Menschen sind, schämen wir uns. Je größer unser Anspruch an uns ist, je größer ist die Scham, wenn wir diesem Anspruch, unserem eigenen Anspruch nicht genügen.

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