Artikel aus FORUM 12, Dezember 1999 , Seite 23 ff
In diesem Bericht schildert Anne Jung ihre Eindrücke vom DHS-Herbstseminar 1999 in Königswinter. Im Workshop referierte Jochen Müller über die These "Leben ist Einsam-Sein", aktiv erarbeiteten die Teilnehmer Erkenntnisse wie "Ändere die Umstände - oder deine Einstellung zu ihnen".
Maggi - oder die Würze im Leben als schwerhöriger Mensch
von Anne Jung, Pulheim
"Wenn Du eine Suppe kochen willst, dann nimmst Du MAGGI; das heißt nun mal so, weil es irgendwann mal, einer so genannt hat...."
Das war beileibe nicht die einzige Lebensweisheit, die uns Jochen Müller, unterstützt von Paul Heeg, an diesem Wochenende in Königswinter aufgetischte. Es ist in erster Linie sein "Schluss-Plädoyer" vom Sonntagmorgen, das noch in meinem Kopf herumspukt und mich (Müdigkeit hin oder her) in die Tasten hauen lässt: Ich komme mir vor wie ein vollgesaugter Schwamm, der sich jetzt erst mal "ausdrücken" muss.
Sonntag, 10.10.1999, 17.30 Uhr: Vor ein paar Stunden bin ich zusammen mit meinen Freunden vom HERBSTSEMINAR 1999 der DHS nach Hause gefahren; die folgenden Zeilen sind der (nun auch noch öffentliche!) Versuch, meine vielen Eindrücke dieses Wochenendes zu verarbeiten.
Für mich ist ein solches Seminar "unter uns Schwerhörigen" immer wie ein spezielles und ganz persönliches "Wohlfühl-Bad".
Für mich ist ein solches Seminar "unter uns" immer wie ein Ausflug in eine andere Welt. In meinem Alltag lebe und arbeite ich ja, wie viele andere Teilnehmer auch, überwiegend mit guthörenden Menschen; solche Treffen wie in Königswinter sind daher für mich immer wie ein spezielles und ganz persönliches "Wohlfühl-Bad": beim "Eintauchen" treffe ich auf liebe Bekannte, viele verständnisvolle und besonders aufmerksame Gesprächspartner. Immer nehme ich am Ende neue Erkenntnisse und Anregungen mit, die mir im Alltag später wieder ein Stück weiterhelfen. So ist es auch dieses Mal gewesen.
Als bekennender Fan des Rendsburger Reha-Zentrums freute ich mich natürlich besonders über das Wiedersehen mit Paul Heeg. In verschiedenen Berichten, die auch in früheren FORUM-Ausgaben nachzulesen sind, habe ich gerne über die Bedeutung berichtet, die meine Reha in Rendsburg im September 1997 für mich persönlich hatte - und über die STEINE, die sie ins Rollen brachte.
Obwohl ich schon seit ca. 20 Jahren eine fortschreitende Hörbehinderung habe, bin ich ziemlich sicher, dass ich erst seit Rendsburg ein schwerhöriger Mensch bin (Stichwort: Identität). Darüber hinaus wurde ich dort auch ganz gewiss von Reha-Team mit dem Virus infiziert, mich für meine Hörbehinderung und für andere Betroffene zu engagieren.
Jochen Müller hatte ich erst kurz zuvor beim Sprecherseminar in Bad Grönenbach kennen gelernt, an das ich nicht zuletzt wegen seiner fachlichen Anleitung, der guten Moderation und seiner pfiffigen Art schöne Erinnerungen habe.
Also sprach alles für ein interessantes Wochenende, auf das ich mich freute. Am Samstag morgen ging's los:
LEBEN IST EINSAM-SEIN..
..war unser Thema; ich gestehe, dass ich mit diesem Satz (auch in Bezug zum Gedicht von Hermann Hesse) meine Schwierigkeiten hatte: diese Aussage ist für mich sehr absolut. Ich konnte ihr schlicht und ergreifend so "eindimensional" nicht zustimmen; ich war neugierig auf die Behandlung und vor allen Dingen auf die Ansichten der anderen Teilnehmer.
Wie "geht" Einsamkeit - wenn man sich in einer munteren Runde mit rund 40 freundlichen und zugewandten Menschen weiß?!
Wer nicht HÖREN kann, muss FÜHLEN, deshalb wurden wir zur Einstimmung zuerst einmal auf eine kleine Entdeckungsreise durch den Seminarraum und in unser Innenleben geschickt. Unsere einzige Aufgabe war...
Spüren was Du fühlst, wenn Du beim Umherlaufen im Raum ...
- ... nur auf den Boden schauen darfst (war mir sehr ungewohnt und ich fühlte mich unbehaglich)
- ... nur auf die Schuhe gucken darfst (habe sogar ein paar Schuhe wiedererkannt ... :)
- ... wenn Du die anderen Menschen in der Runde nur neutral (!?) anschauen darfst (Erika hat gelacht - ich fand's gar nicht lustig ... irgendwie künstlich)
- ... die anderen Menschen anlächeln darfst (das war schön und die Stimmung im Raum stieg spürbar ...)
- ... eine asiatische Begrüßung nachahmen darfst = Verbeugen vor dem Anderen (ist nicht mein Ding, ich war ganz steif, mag nicht "dienern/mich verbiegen).
- ... den Anderen zur Begrüßung berühren darfst ... (dabei fühlte ich mich am wohlsten und auch bei den Anderen entstand "freundliche Betriebsamkeit"...)
Das Ende jeder Sequenz wurde durch Aus- und Anschalten des Lichtes signalisiert. Nach der letzten Übung dauerte es (wohl absichtlich?!) sehr lange, bis das Licht wieder anging: im Dunkeln erstarb schnell jedes Gespräch. Die Kontakte blieben sprichwörtlich in der Luft hängen. Ein Gemurmel wie "Singen im Wald", viele schauten sich unsicher um, hielten sich an den Stühlen fest. Jeder war mit sich allein.
Einsamkeit wurde für einen Augenblick tatsächlich begreifbar.
Unter diesem Eindruck fiel es nicht schwer, anschließend ein paar Aussagen zu finden zum Begriff der Einsamkeit im allgemeinen und unter Berücksichtigung einer Hörbehinderung: für mich - und wie ich den Metaplankärtchen meiner Mitstreiter entnahm - auch für sie, kann Einsamkeit sowohl positiv besetzt sein (Chance zur Ruhe und zum Kraft schöpfen) und natürlich auch negativ empfunden werden (Angst machen, Hilflosigkeit und Unsicherheit erzeugen); im Zusammenhang mit einer Hörbehinderung kommt dann noch sehr schnell das Gefühl von Ausgrenzung und Ausgeschlossenheit dazu, das wir alle schon oft erlebt haben.
Als echtes Highlight unseres Zusammenseins habe ich die beiden anschließenden Referate von Eva Sommer und Irmgard Schauffler empfunden, die sich - jede auf ihre Art - mit dem Tagungsthema beschäftigt haben und uns sehr überzeugend an ihren Gedanken teilhaben ließen.
Ungeduldig warte ich schon jetzt auf den Tagungsbericht, der - Erika hat's versprochen - auch den Originaltext dieser beiden Vorträge enthalten wird; ich möchte gerne die vielen, sicher nicht nur mir aus dem Herzen gesprochenen, schönen Denkansätze unbedingt noch einmal in Ruhe nachlesen. Ich werde sie ganze sicher auch in meinem guthörenden Freundeskreis anbieten: Lebenshilfe PUR. Mit und ohne Behinderung (DANKE noch einmal an die beiden...)
Während Evas Worte ohne Umwege eine Punktlandung mitten in meinem Bauch gemacht haben, hat mich der nach meinem Empfinden etwas "handfestere" Vortrag von Irma noch aus einem anderen Grund eher im Kopf gepackt: sie beschrieb u.a. einen Briefwechsel mit einer Psychologin/Autorin (Frau Wolf), deren Arbeitsgrundlagen mir früher schon einmal begegnet waren: dass mir die in einem ganz anderen Zusammenhang kennen gelernte Grundüberzeugung ("Gedanken lösen Gefühle aus") nun heute bei der Behandlung von Einsamkeit und Hörbehinderung wiederbegegnet, zeigt mir wieder einmal, dass es im Leben keine Zufälle gibt. ... Gut so.
An einige Passagen dieser beiden Referate knüpfte Jochen Müller mittags beim eingangs erwähnten "Schluss-Plädoyer" an - was mir gut gefallen hat und vor allem meine Eindrücke vom Vortrag noch so gewaltig verstärkte, dass ich spontan zu Stift und Papier greifen musste, um einiges mitzuschreiben und meine eigenen, zusätzlichen Gedanken dazu festzuhalten:
.... ein paar Beispiele:
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Stichwort: "Wenn ich fühle, dann bin ich es".
Für mich DER Satz in unserem Seminar. Punktlandung, Jochen! Ganz spontan habe ich ihn für mich wie folgt fortgesetzt: Wenn ich fühle, dann bin ich es, die sich da bei mir selbst zu Wort meldet und mit zeigt, dass da z.B. gerade etwas schief läuft (bei negativen Gefühlen); das gibt mir die Chance zu schauen, meine Situation UND meine Gedanken zu überprüfen und zu entscheiden, welchen Teil davon ich ändern kann (Ändere die Umstände - oder Deine Einstellung zu ihnen). Mir gibt diese Sichtweise Handlungs- und Entscheidungsspielraum - etwas für mich sehr wichtiges und etwas, das durch meine Hörbehinderung "im Leben" oft genug eingeschränkter ist als für Nicht-Behinderte; ich bin daher dankbar für jede Chance, weitere Einschränkungen, die womöglich in mir selbst liegen, zu vermeiden.
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Stichwort: "Spannungsfeld"
so beschrieb Jochen das Verhältnis zwischen Kommunikation und Einsamkeit, das bei allen Menschen ausgeglichen sein muss, um zu sozialen Kontakten fähig zu sein; die Waage ist bei uns aufgrund der Hörbehinderung sehr viel schwerer "ins Lot" zu bringen; wohlgemerkt: es ist schwerer - aber es ist nicht unmöglich.
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Stichwort: "bei sich selbst bleiben"
.. die von Jochen vorgeschlagenen Fragen lohnen sich m.E. sehr: Wer geht wie mit mir um? Wo fühle ich mich wohl? Nur wenn ich mich selbst genau beobachte (und mich weniger um das Tun und Lassen der Anderen kümmere), kann ich feststellen, was für mich richtig ist. Und dann meine Entscheidungen treffen.
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Stichwort: "Die Tapete ist scheiße"
Jetzt lacht Ihr sicher! Mir hat das Beispiel wunderbar gefallen und ich bin sicher, jeder der dabei war, erinnert sich jetzt ganz genau, was Jochen an dieser Stelle zur Betrachtung des eigenen Lebensraumes gesagt hat... Meine "Tapete" gefällt mir - könnte aber hier und da auch ruhig noch ein paar Farbkleckse vertragen... Wo stehen die Farbtöpfe ?!!!
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Stichwort: "Sag JA zu Dir selbst!"
Mir gefällt die Formulierung "Ich bin ein Mensch, der schwerhörig ist" und gleich morgen im Büro, wenn ich zum ersten Mal mit den neuen Kollegen zusammenkomme und (logisch) über meine Schwerhörigkeit "aufkläre", werde ich ihn anwenden und so meinen Standardsatz seit Rendsburg ("Ich bin schwerhörig und es kann sein...") abwandeln. Man /frau entwickelt sich weiter.
Inzwischen ist es in Kopf und Bauch bei mir deutlich ruhiger geworden und draußen ist es schon lange dunkel. Ein sehr ausgefülltes Wochenende ist zu Ende; die intensive Arbeit mit "Kopf und Hand" war manchmal anstrengend (zumal auch - wie immer - die Abende lang und die Nächte kurz waren); trotzdem fühle ich mich jetzt im Augenblick sehr wohl und habe das deutliche Gefühl, mit meinem guten Vorrat an "frisch gewürztem Lebenssüppchen" nun Milleniums-fähig zu sein.
DANKE an alle freundlichen Rezeptgeber und Küchenhelfer; ich bin froh, Euch getroffen zu haben und freue mich auf das NÄCHSTE MAL.