Meine vier Wochen im Rehabilitationszentrum für Hörgeschädigte in Rendsburg

Persönlicher Bericht von U.L., Namen teilweise geändert, Bilder: DHS 

Die erste Woche

Woche 1: Samstag

Sechsstündige Anfahrt bis Rendsburg. Ich döse und lese im ICE, später, im Regionalzug ab Hamburg, schaue ich aufmerksamer auf die Landschaft: Weiden und Maisfelder, einzelne Gehöfte, ein Schwein inmitten von Hühnern auf einer großen Wiese. Glückliche Hühner, glückliches Schwein.

Rendsburger Eisenbahn-Stahlbrücke

Kurz vor dem Ziel steuert der Zug eine riesenlange, hohe Brücke an und fährt einen weiten Bogen um die Stadt herum. Am Bahnhof nimmt mich Lorenz in Empfang. Wir warten auf zwei weitere Reha-Teilnehmer.

Im Campus des Nordkollegs erhalten wir die Zimmerschlüssel. Mein Zimmer für die nächsten vier Wochen ist einfach. Bett, Schrank, ein Tisch, ein Stuhl, über dem Bett ein Bord... Aber der Platz reicht. 18 Uhr ist gemeinsames Abendessen, danach Treffen im Seminarraum, um Organisatorisches zu besprechen.

Olaf, Lorenz, Anja und weitere Ansprechpartner und Betreuer des Reha-Zentrums stellen sich vor. Wir sind elf Teilnehmer, auch eine junge Mutti ist mit ihrem 4-jährigen Sohn hier… Mit Frank, Robert, Anneliese und den anderen schnabbele ich noch ein bisschen. Mittlerweile ist es zappenduster.

Bevor ich schlafe, schreibe ich eine Postkarte an meine Familie. Und ich probiere den Internetzugang aus... Es klappt! Und Zeitschriften studiere ich, die im Fernsehraum ausliegen, speziell die der DHS. Von diesem Selbsthilfeverein habe ich noch nie gehört, aber Frank ist total begeistert. Er lernte Lorenz bzw. die Rendsburger Reha darüber kennen.

Woche 1: Sonntag

Frühstück um 8 Uhr ist OK, eine angenehme Zeit. Um 10 Uhr erwartet Lorenz uns zu einer Stadtführung. Es geht los am Paradeplatz, wo sich Prinzenstraße, Königinstraße, Königstraße, Kronprinzenstraße und Prinzessinstraße treffen – angeordnet wie an der Tafel der dänischen königlichen Familie. Rendsburg war in seiner Geschichte auch dänisch.

Blaue Linie in der Rendsburger Altstadt

Wir erfahren etwas über die Eider und ihre „Kappung“ durch den Nord-Ostseekanal, laufen auf der Blue Line, dem blauen Weg, der an den wichtigsten Sehenswürdigkeiten vorbeiführt, zum alten Rathaus und einem Platz, der früher einmal ein Hafen war.

Von Wasser ist dort heute nichts mehr zu sehen. Geschäfte gibt es, Banken, einen Busbahnhof. Zur Orientierung reicht uns das erst einmal.

Nach dem Mittagessen führt Anja uns zum Kanal. Die Sonne scheint, ab und zu kommt uns ein Riesenfrachter entgegen oder überholt uns. Leider fährt die Schwebefähre heute nicht. Dafür unterqueren wir den Kanal. Über eine lange Rolltreppe und Fahrstühle geht es in den Fußgängertunnel.

Die Sonne meint es gut mit uns. An einem Eiscafé auf der anderen Seite gönnen wir uns eine Portion Eis. Die ganze Zeit schon tauschen wir uns untereinander aus – woher wir kommen, warum wir hier sind, wie es uns berufsmäßig geht. Morgen soll die eigentliche Vorstellungsrunde sein.

Woche 1: Montag

Freiwillig wache ich mit dem Weckergerappel bereits um 6 Uhr auf. Harald – 75 Jahre, Frank – 53, und ich haben uns zu einem Morgenspaziergang verabredet. Frank in kurzen Hosen und T-Shirt, ich in dicker Jacke, Harald, der jährlich an die 12000 Kilometer radelt, in ordentlich sportlich-praktischer Kleidung... Nach einer knappen Stunde am Kanal sind wir zurück.

Um 9 Uhr gibt es das große Kennenlernen: In Partnerarbeit interviewen wir uns gegenseitig zur Person, Hörschädigung und Ziel der Reha. Mein Partner ist Thomas, eine sehr interessante Persönlichkeit. Ich bewundere alle Menschen, die den Schritt in die Selbständigkeit wagen. Er als Physiotherapeut wird es bis zum Heilpraktiker schaffen.

Nach dem Mittagessen beschäftigen wir uns mit Kommunikation, was man dafür braucht und was zum Verstehen dazugehört.

Wie viele Buchstaben hat das deutsche Alphabet? 26 – klar, aber 29, wenn man ä, ö und ü hinzuzählt, und 30 mit dem ß. Und es gibt 42 Laute, aber nur 12 (!) Lautbilder. Davon sind allein 5 die Vokale. Wir schauen diese näher an, beschreiben sie. Fortsetzung am Mittwoch.

Wir erhalten unseren Wochenplan, morgen sind Einzelgespräche und Krankengymnastik angesagt.

Das Essen schmeckt, und ich muss mich zusammenreißen. Nicht dass das Auge mehr isst, und mehr auf dem Teller landet als ich schaffe.

Die Temperatur ist immer noch angenehm, auch wenn es jetzt leicht nieselt – also noch ein Spaziergang in Richtung Brücke und Schwebefähre. Heute funktioniert sie, wir lassen uns einmal hinüber und herüber ziehen bzw. schweben...

Woche 1: Dienstag

Pünktlich 6:30 Uhr warten Harald und Frank auf mich, der eine mit Kniebundhose und Stock, der andere in kurzem sportlichem Outfit, ich habe wieder den dicken Anorak an... Wir laufen zügiger, und große Schiffe gibt es auch zu sehen...

Heute stehen Einzelgespräche an. Meines ist erst um halb 11, ich kann noch ein bisschen bummeln.

Nach dem Mittagessen probieren wir den Weg an der Eider in die Stadt aus und sind pünktlich zum Kaffee und dem nächsten Seminar zur Kommunikation wieder zurück.

Im Raum stehen Fragen wie „Wie kann ich meine Kommunikation beeinflussen, damit ich besser verstehe?“ Ich gewinne die Erkenntnis: „Ich muss aktiv werden!“ Nur: Was ist die richtige Sprechgeschwindigkeit, welches die richtige Lautstärke?

Die eigene Vorbild-Wirkung ist wichtig: also selbst die Hand nicht vor den Mund halten beim Sprechen, selbst deutlich sprechen, und nicht weiter reden, wenn der andere sich wegdreht... Am Donnerstag geht es weiter.

Markus fehlt zum Gleichgewichts-und Koordinationstraining, weil die Durchfahrt eines Kreuzfahrtschiffes angesagt war. Nach Ende der sportlichen Aktivität sausen Bernd und ich los, und auch Frank entschließt sich zu einem Spurt an den Kanal. Eine Frau bestätigt uns: Noch kein Schiff in Sicht. Gegen 18 Uhr geben wir schon fast auf, da nähert sich das Traumschiff. Wirklich riesig. Dass es durch die Brücke passt, grenzt fast an ein Wunder. Wir fotografieren und winken, und es winken Reisende auf dem Riesenpott zurück. Nun schmeckt das Abendbrot doppelt so gut.

Woche 1: Mittwoch

Obwohl ich erst Mitternacht ins Bett gegangen bin, mache ich mich wieder pünktlich um 6:30 Uhr auf den Weg nach draußen, wo Frank und Harald schon warten... Nach dem einstündigen Morgenspaziergang, schaffe ich noch einen ersten Anruf, um unserem Vereins-Ehrenvorsitzenden zuhause zum 85. zu gratulieren. Er freut sich sehr über die erste Gratulantin.

Mundabsehen und Fingeralphabet stehen heute Vormittag auf dem Plan. Nach der Wiederholung der Vokale erhalten wir Wortreihen. Drei ähnlich klingende Worte werden vorgesagt, dann wird eines wiederholt, das wir anhand des Mundbilds erkennen müssen. Dann steigern wir uns auf 5-Wort-Reihen.

Nun ging es zur 'Fingergymnastik'. Wir lernen das Fingeralphabet von A bis Z, dazu noch die Umlaute und ein Sonderzeichen für SCH...

Ich 'fingere' mit links, weil durch meine steifen Gelenke rechts die Buchstaben undeutlich werden. Ich spüre die Schulter, und ich staune, wie viele Buchstaben ich schon behalten habe, den eigenen Namen, Geburtsort u.a. Aber bei den anderen Teilnehmern die Buchstaben zu lesen und zu verstehen, da komme ich gerade bei den schnellen Experten wie Harald, Robert und Bernd nicht hinterher ...

Nach dem Mittagessen lassen wir uns von der Sonne wärmen und testen Leih-Fahrräder. Dann geht’s wieder ins Seminar, wo es diesmal um Technik geht, Otoplastiken, Schmuck-Otoplastiken, Zusatzgeräte und auch die Anatomie des Ohres. Vieles ist mir bekannt, einiges wird aufgefrischt.

Morgen wird die Akustikerin eine Hörgeräteüberprüfung durchführen und uns unsere Hörkurven erklären. Das ist etwas, was ich bis heute noch nicht so ganz begriffen habe. Wir sind erst kurz vor 18 Uhr fertig.

Frank hat sich ein neues Paar Laufschuhe gekauft und ich eine Bürste zum Schuhputzen. Nach den Morgenspaziergängen haben meine Schuhe eine Reinigung nötig.

Abends klebe ich noch das Fingeralphabet an die Tür und übe. Das ABC schaffe ich, allerdings nicht in so rasantem Tempo wie die “Profis“. Ob ich es auch selbst lesen kann?

Woche 1: Donnerstag

6:30 Uhr ist unser Trio wieder auf den Beinen. Frank legt Tempo vor. Nach 20 Minuten sind wir schon an der Stelle, für die wir gestern 25 Minuten brauchten.

Nach dem Frühstück erwartet uns Anja. Fingergymnastik gibt es heute keine. Wir beschreiben Laute und deren Mundbilder: F, B, S, D und andere. Lippenstellung, Zunge, Kinn, Wangen und Zähne, Ähnlichkeiten mit anderen Lauten...

Nach einer kurzen Pause steht Verhaltenstraining mit Lorenz auf dem Programm.

Nicken während eines Gesprächs kann manchmal eine Falle sein. Viel besser ist es, das Verstandene zu wiederholen. Oder gezielt nachzufragen, wenn ich etwas nicht richtig verstanden habe. Oder man schlägt mit den Fragen: „Worum geht es?“ Und: „Was willst du darüber wissen?“ gleich zwei Fliegen mit einer Klappe. Denn wenn der Gesprächspartner überlegt, dann spricht er eventuell auch etwas langsamer, und gleichzeitig erfahre ich mehr über das Thema und kann gezielt weiter fragen.

Zum Schluss schreibe ich mir auf:

„Für unsere Ohren können wir nichts. Wir brauchen uns dafür überhaupt nicht zu entschuldigen und gehen offensiver damit um. Das gezielte Nachfragen ist eine Möglichkeit schneller zu verstehen.“

Nach dem Mittagessen muss die erste Gruppe, zu der auch ich gehöre, ins Zentrum zu Maren, der Akustikerin. Mit Frank laufe ich zurück, Bernd überholt uns mit dem Rad. Wir haben wirklich außergewöhnliches Wetter. Trotz der Sonne ist die Luftfeuchtigkeit enorm, die gepflasterten Fußwege glänzen wie Speckschwarten und auch das Gras ist nass...

Woche 1: Freitag

Ich hätte nicht geglaubt, dass so ein gemeinsamer zügiger Morgenspaziergang so süchtig machen kann. Gestern Abend war ich schlagkaputt, aber heute früh um 6:30 Uhr konnte ich nicht anders. Frank geht es wie mir, für Harald ist die Morgenrunde dagegen Alltag – nicht nur hier in Rendsburg. Am Hafenamt liegt ein großes Segelschiff, drei Mann sind wach und beantworten unsere Fragen: 32 Meter hohe Masten, einwöchiger Segeltörn, Österreich, 25 Mann, ja - die schlafen alle noch, der einzige „Profi“ ist der Kapitän, die Besatzung besteht aus Hobbyseglern...

Von 9 bis 12 Uhr steht Selbsterfahrung mit Dr. Hase auf dem Plan. Der Name kommt mir bekannt vor. Dr. Ulrich Hase: Jurist, Sonderpädagoge, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Hörgeschädigte (DG)... In der kurzen Vorstellungsrunde erfragt Uli – wir duzen uns alle hier – unsere Namen und Wohnorte. Er meint, wir wären uns schon mal begegnet. Jetzt fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Na klar, ich habe mich ja schon zweimal mit Renate Welter auf dem Hainstein getroffen, wo die DG tagt... Die drei Stunden mit Uli vergehen wie im Flug. Ulis Einstellung: „Ich finde es wohltuend, dass ich wenig höre.“ Aber das ist nicht unsere Diskussionsgrundlage.

Fragen

In der kleinen Pause tragen wir unsere Probleme zusammen. Wir schreiben sie auf Blätter, die wir vor uns auf dem Boden ausbreiten. Nun geht es darum, Ordnung hineinzubringen. Dann nehmen wir uns das erste Problem vor.

Robert erzählt über seine Schwierigkeiten: Blickkontakt strengt ihn an, seine Erholungsphasen werden falsch verstanden. Danach stellen wir ihm Fragen, d.h. wir machen bewusst keine Anmerkungen oder Kommentare, Robert antwortet. Jetzt kommt der dritte Punkt: die Suche nach der Lösung. Robert hört zu, darf aber nicht sprechen. Dann folgt seine Rückmeldung. Das Ganze ähnelt der Problemlösungssuche, wie sie im kooperativen Lernen (cooperative Learning) geübt wird. In einem Rollenspiel muss Robert jetzt zeigen, was er für ähnliche Problemsituationen mitnimmt...

Nach dem Mittagessen geht es mit Lorenz und dem Thema Körpersprache weiter.

Nach der Erklärung, was Lautsprache begleitendes Gebärden (LBG) und die Deutsche Gebärdensprache (DGS) unterscheidet, tragen wir an die 60 bis 70 natürliche Gebärden zusammen. Um das Auge für die Handbewegungen zu schulen, spielen wir „Stille Post“, aber mit Gebärden. Die Zeit vergeht schnell.

15:30 Uhr ist für heute Schluss, das Wetter ist immer noch schön und die Fahrräder warten auf ihren Einsatz. Ich schließe mich Frank an, der eine Bekannte im benachbarten Stadtteil besuchen möchte. Dort werden wir schon erwartet. Die Menschen hier sind übrigens sehr freundlich. Und was mir auch angenehm auffällt: Es gibt keine Rennräder, alles radelt gemütlich...

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