Unsere Persönlichkeit hat viele "Äste"
In der Tat bestehen wir Hörbehinderten doch nicht nur aus "(Schlapp)Ohren", sollten wir uns nicht allein über die Hörschädigung "definieren"; vielmehr haben wir (hoffentlich) auch noch andere Themen und Interessen. Wir dürfen stolz auf Geleistetes und Erreichtes sein, aber wir sollten nicht der Gefahr erliegen, die übrigen Anteile unserer Persönlichkeit nicht mehr wahrzunehmen. Mittels einer Skizze wurde uns veranschaulicht: wenn immer nur der eine "Ast" (der Hörbehinderung) wächst, nimmt er den anderen Ästen Luft weg!
Eine ältere Teilnehmerin sagte, sie habe ihr Ertaubungsschicksal nicht zuletzt auch dadurch meistern können, dass sie stets viele Interessen und Hobbys gepflegt habe.
Raus aus dem Kreislauf der Hilflosigkeit
Der Sonntagvormittag sah uns in zwei "Arbeitsgruppen" aufgeteilt; u.a. sollte ein Rollenspiel zur Thematik "Kreislauf von Hilflosigkeit und Bestärkung derselben" versucht werden.
Für das "Publikum" wie auch für die "Akteure" selbst war es beeindruckend, eine allmähliche Veränderung im Verhalten des hörenden Mannes und seiner hörbehinderten Frau mitzuerleben: er nahm sich in seiner gutgemeint fürsorglichen Haltung nach einer Weile ein wenig zurück, sie fühlte sich zunehmend dazu befreit, ihre Probleme im gemeinsamen Bekanntenkreis selber zum Ausdruck zu bringen (z.B. die allerseits auf sie gerichtete Aufmerksamkeit, wenn sie ihres Mannes Dolmetschen von Witzen nicht sofort versteht) und mehr auf ihre Bedürfnisse zu schauen.
Die ,mitspielende' Dritte, ein "alter Hase", berichtete, wie sie sowohl ihr Unterhaltungsbedürfnis als auch das Bedürfnis nach etwas, was ihr gut tut (wie Gymnastik/Schwimmen/Wandern o.ä.) durch zeitliche Aufteilung zu lösen gelernt hat - beides gleichzeitig geht ja für uns Hörgeschädigte nun mal meistens nicht.
Und wenn wir unseren normalhörenden Mitmenschen Bescheid sagen, dass wir in bestimmten Situationen nicht unbedingt alles mitbekommen müssen, sondern zum Beispiel gern mal ungestört in die Natur schauen oder schwimmen oder kegeln oder sonst etwas für unser Wohlbefinden tun möchten, dann entlastet es diese von unnötig schlechtem Gewissen.
Fazit: Der Hörbehinderte sollte nicht zu viel abgeben und sich als "unterlegenes Würstchen" fühlen; der Normalhörende sollte dem Hörbehinderten nicht zu viel abnehmen und ihn dadurch "klein" machen, sondern ihn auch fragen: Was brauchst du, um deine Belange selbständig regeln zu können?
Aus dem Abstand von vier Wochen kann ich heute sagen, dass das eine oder andere aus diesem Seminar in meinen schwierigen Lebensumständen weitergewirkt hat, dass sich Schritt um Schritt einiges zum Besseren bewegen lässt, sobald erstmal innerlich ein Veränderungsprozess eingesetzt hat.
Ich versuche bewusster darauf zu achten, was eigentlich mit und in mir geschieht und was mit/in meinem Nächsten - ebenso, was ich für mich brauche, um weiterhin "durchkommen" zu können (auch in den jüngsten, durch die chronische Krankheit meines Mannes bedingten Turbulenzen).
Dieser Bericht soll auch ein Dank sein an die Organisatoren Michael Gerber und Marion Strömer und die Referenten Herr Prof. Langer und Herr Rien sein und natürlich an die drei bewährten Gebärden- und Schreibdolmetscherinnen Käthe & Martina Rathke und Monika Widners, die uns optimales Verstehen ermöglichten - und ein Stückchen "Gegengewicht" zu manchen Forderungen nach mehr "Konkretion" oder strafferem Seminarablauf!
Vielleicht hat sich das Inhaltliche (zu diesbezüglichen Rückmeldungen hatte es im Schlussplenum leider nicht mehr gereicht) bei späterem Nachdenken und eventuellem Umsetzen ja noch mehr erschlossen.