Bevor ich näher erläutere, wie aus individualpsychologischer Sicht auch Behinderten Hilfestellung gegeben werden kann, möchte ich noch darüber sprechen, was philosophische Erkenntnisse für uns Behinderte nützen können. Auf den ersten Blick sieht es zwar nicht danach aus, wenn man erfährt, wie in der Philosophie der Antike das Ideal des Schönen bzw. des Makellosen verherrlicht wurde.
Im Laufe der Jahrhunderte interessierten sich aber die Philosophen auch für die Anthropologie (Lehre vom Menschen) und für die weniger schönen Seiten der Welt und des Menschen und man lernte akzeptieren, dass der Mensch von Natur aus ein mit allerlei Mängeln behaftetes unvollkommenes Wesen ist, das letztlich nur, wenn es im Sozialgefüge der Menschheit eingebettet ist, überleben und seine Menschsein verwirklichen kann.
Wohl jeder kennt den Spruch: Not lehrt beten. Mit dem Philosophieren ist es wohl in etwa auch so. Philosophie beginnt, wenn das scheinbar Alltägliche seine Selbstverständlichkeit verliert und zum Problem wird und hinterfragt werden will oder muss. Von dem Philosoph und Soziologen Karl Marx wird vielleicht mancher nicht viel halten, aber in dem Punkt gebe ich ihm recht, wenn er schreibt, dass man in der Philosophie die geistigen Waffen für die Emanzipation (Befreiung aus einer Abhängigkeit) findet.
Den meisten dürfte auch folgendes Gebet bekannt sein:
Herr, gib mir den Mut, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann, die Gelassenheit zu ertragen, was ich nicht ändern kann und die Weisheit, das Eine vom Anderen zu unterscheiden.
Das bedeutet, philosophisch nachzudenken, gemäß der wörtlichen Übersetzung: Philosophie = Liebe zur Weisheit. Zu Mut und Gelassenheit können wir uns auch dadurch anspornen lassen, wenn wir aus dem reichen Erfahrungsschatz, in den Werken der vielen Philosophen schöpfen, indem wir diese lesen und bestimmte Erkenntnisse uns zu eigen machen. Dies ist meistens nicht gerade bequem und die sonstigen vielfältigen Möglichkeiten der Zerstreuung und Vergnügung halten uns oft genug davon ab.
Nun, aber wieder zurück zur Psychologie. Dr. Werner Richtberg dürfte den meisten von uns bekannt sein durch seine richtungsweisenden Arbeiten und Forschungsbeiträge im Dienste der psychotherapeutischen Rehabilitation Hörgeschädigter. Bei einem seiner Vorträge mit dem Thema "Standhalten statt Flüchten" weist er auf die Gefahr bzw. Versuchung hin, der der hörbehinderte Mensch erliegen könne, nämlich seinen Hörverlust als Vorwand zum Rückzug aus der Gesellschaft und der selbstständigen Lebensführung zu nehmen. Er schlägt als Gegenmaßnahme die Teilnahme an der Selbsthilfegruppe Gleichbetroffener vor, um hier zum einen über alles reden zu können, was einen belastet, zum anderen, um am Gemeinschaftserlebnis teilzuhaben.
Hier decken sich, wie ich meine, zum großen Teil die Ziele der Individualpsychologie mit denen der Selbsthilfegruppen. Indem in der SHG Solidarität erlebt und das Wir-Gefühl gestärkt wird, weil jeder den anderen und sich selbst akzeptiert, und es mit der SHG leichter fällt, sich mit dem Hörverlust abzufinden und so der innere Widerstreit entfällt, kommt man auch einem der Hauptziele der IP näher, die soziale Gleichwertigkeit aller Menschen.
Anlässlich eines Kongress-Festvortrages sagte einmal Dr. Richtberg:
"Hörschädigung führt, wenn sich der oder die Betroffene nicht kraftvoll dagegen zur Wehr setzt, leicht zu einer beschädigten Existenz, sie verschließt aber niemals für sich allein den Weg zu einem erfüllten Leben."
Menschen können an schicksalhaften Belastungen auch wachsen. Doch jedes Glück will erlernt werden, es fällt einem nicht in den Schoß.