Artikel aus FORUM 21, Juni 2004 , Seite 39 ff

Ablesen oder Absehen – nur eine Wortklauberei? Wenn Hörgeschädigte Gesprochenes an den Lippenbewegungen zu erkennen scheinen, wird das oft als "Lippenlesen" bezeichnet. Lesen Sie hier Näheres über den feinen Unterschied zwischen den Begriffen.

 

Ablesen oder Absehen?

von Lorenz Lange, Reha-Zentrum Rendsburg

Durch meine Arbeit im Reha-Zentrum für Hörgeschädigte in Rendsburg werde ich immer wieder mit der Frage konfrontiert, ob der Begriff „ablesen“ richtig sei oder ob wir nicht lieber „absehen“ sagen sollten. Um diese Frage beantworten zu können ist es wichtig, ein wenig auszuholen:

Nicht wenige unserer Teilnehmer kommen mit einer Zulassung für einen vierwöchigen „Lippenlese-Kurs“ zu uns. Diese Formulierung wird von den meisten HNO-Ärzten verwendet, die dabei auf den englischsprachigen Begriff „lipreading“ zurückgreifen, der in der internationalen Fachliteratur benutzt wird. Im Bereich der Sonderpädagogik ist dieser Begriff ebenfalls bis heute Standard.

Wer schon einmal versucht hat, vom Mundbild abzusehen, weiß sehr gut, dass es hier Grenzen gibt, die auch mit viel Übung nicht überschritten werden können. Das ist nicht nur davon abhängig, ob mein Gegenüber, bei dem ich absehen möchte, ein deutliches Mundbild hat oder langsam spricht, ob er mir bekannt ist oder vielleicht ein Bart den Mund verbirgt; in erster Linie wird das Absehen dadurch beschränkt, dass nur ein kleiner Teil der Laute von den Lippen gebildet wird. Der überwiegende Teil aller Laute wird im Rachenraum produziert und ist somit für uns nicht sichtbar. Forschungsergebnisse belegen, dass maximal 30% des Gesprochenen über das Mundbild zu erkennen sind. Diese Zahl lässt sich etwas erhöhen, wenn uns das Gesprächsthema bekannt ist, wir kombinieren können, worüber gesprochen wird, und es somit richtig verstehen. Ich gehen davon aus, dass in diesem Fall das Verstehen auf 50% des Gesprochenen erhöht werden kann.

Begriff „Lesen“

Was verbinden wir normalerweise mit dem Begriff „lesen“? Wir verstehen darunter die visuelle Aufnahme von Schriftsprache, also das Lesen in einem Buch, einer Zeitschrift oder ähnlichem, wo wir Wort für Wort erfassen können. Die Buchstabenverbindungen bleiben an ihrem Platz und erlauben ein nochmaliges Lesen bei Unklarheiten, die einzelnen Wörter sind durch Zwischenräume gekennzeichnet und der Leser kann sein eigenes Lesetempo bestimmen: Wir können davon ausgehen, dass beim Lesen in der Regel an die 100% des Textes verstanden werden.

Bei der Zusammenfassung unserer bisherigen Ergebnisse stoßen wir also auf einen gravierenden Widerspruch: Lesen beinhaltet für uns die fast 100 prozentige visuelle Aufnahme von Schriftsprache, und beim „lipreading“ erreichen wir eine Grenze, die bei maximal 30 prozentigem Verstehen ohne Vorgaben und bei 50 prozentigem Verstehen mit Wissen um das Thema liegt.

Eine neue Überlegung ergibt sich, wenn wir uns dieser Problematik unter dem Gesichtspunkt der Hörtaktik nähern: Gesprächspartner, die nicht mit der Materie „Hörschädigung“ bewandert sind, assoziieren mit dem Begriff Ablesen schnell „wie in einem Buch lesen“ und kommen damit zu dem Ergebnis: „Schön, dass die vom Mundbild ablesen können wie aus einem Buch, dann verstehen sie ja alles, was gesagt wird!“ Dass dem nicht so ist, wissen wir alle sehr gut!

Begriff „Absehen“

Ich verwende ausschließlich den Begriff Absehen, denn er beinhaltet für mich das, was in unserem Rahmen möglich ist. Für meinen Gesprächspartner reicht er dabei als Erklärung bei weitem noch nicht aus, er vermeidet aber von vornherein eine falsche Vorstellung. Es ist mir wichtig, immer wieder auf diese Problematik „ablesen oder absehen?!?“ hinzuweisen, denn letztlich geht es nicht nur um ein Wort, sondern wir erleichtern uns die Kommunikation, wenn wir keine „falschen“ Erwartungen wecken.

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