Forum 61/ Sommer 2024: Neues Hören erfahren
Beitrag von Michael Gerber

Menschen mit Höreinschränkungen, insbesondere Schwerhörige und im Laufe ihres Lebens Ertaubte, sind im Alltagsleben großen Herausforderungen ausgesetzt. Denn selbst mit den besten Hörhilfen werden sich Betroffene im Austausch mit ihren Mitmenschen niemals störungsfrei verständigen können. Das liegt im Wesentlichen daran, dass sämtliche Hörhilfen ein gesundes natürliches Hörvermögen bislang weder vollständig ersetzen noch ausgleichen können.

Konkret geht es bei Hörhilfen darum, die gestörte natürliche Schallweiterleitung bei Betroffenen über das Ohr prothetisch mittels elektrophysiologischer Stimulation der Hörnerven zu überbrücken. Ziel ist es, möglichst wieder ein annähernd normales Hören und Sprachverstehen bewirken zu können. Dabei kann man leider nicht mit einer linearen Schallverstärkung arbeiten. Vielmehr müssen über Hörgeräte wie über Cochlea-Implantate weggefallene Tonspektren und Frequenzen immer individuell an den jeweiligen Hörschaden Betroffener angepasst werden. Das gelingt umso besser, je geringer der zeitliche Abstand zwischen dem Eintreten einer Hörstörung und der Notwendigkeit zum Tragen einer Hörhilfe ist.

Mit den individuellen Hörverstärkungsstrategien reaktiviert sich beim neu erfahrenen Hören zwangsläufig die Hörschwelle der Trägerinnen und Träger von Hörhilfen, also die Schmerzgrenze für Schallereignisse, die dann jeweils als höchst unangenehm empfunden werden. Wird diese Schallempfindlichkeitsgrenze überschritten, gibt es nämlich Momente, die akustisch schwer auszuhalten und höchst Hörnerv tötend sind.
Paradoxerweise gilt das weniger für überlaute, punktuell auftretende Geräuschkulissen oder Dauerlärm, wie z. B. Straßen- bzw. Schienenverkehr, Fluglärm, Baulärm, laute Arbeitsgeräte u. a. m. Hier sind die Hörhilfen nämlich generell so programmiert, dass sie den Störschall aus Gründen des Gesundheitsschutzes immer automatisch auf ein erträgliches Maß abregeln.

Was trübt aber das Hören mit den modernen Hörhilfen?? Es sind vor allem gewöhnliche alltägliche Geräuschkulissen, die Menschen mit einem gesunden Gehör intuitiv weniger bewusst wahrnehmen, die sie überhören oder gar ausblenden können.

Durch eine regressive, bis an Taubheit grenzende Hörschädigung bin ich seit früher Kindheit Träger diverser Hörgeräte und habe eine harte Tour des Schwerhörens durchlaufen. Das Schul- und Berufsleben, umgeben von nur wenig verständnisvollen guthörenden Mitmenschen, war nicht immer einfach. Es war aber lehr- und erfahrungsreich, sodass ich es mit meinen Hörhilfen und notwendigem Lebenswillen gut händeln und meistern konnte.

Sehr geholfen hat mir dabei ein vor mehr als 10 Jahren implantiertes Cochlea-Implantat (CI). Mein Gehör hatte sich derart verschlechtert, dass ich linksseitig nicht mehr mit Hörgeräten ausreichend versorgt werden konnte und meine weitere Berufstätigkeit infrage gestellt war. Mit meinem CI höre ich seitdem sogar besser als mit Hörgeräten und möchte es nicht mehr missen. Das Hörspektrum erlebe ich kraftvoller und intensiver. Unterhaltungen mit anderen Menschen sind wesentlich entspannter als vordem. Ich kann mit CI wieder unverkrampft fernsehen und telefonieren, direkt, induktiv wie auch per Bluetooth. Ein besonderes Erleben aber ist für mich das neue Hören von Musik in bisher nie gekannter Tonqualität und Klangfülle sowie die Reaktivierung des Autoradios für Nachrichten und Musikuntermalung.

Aber auch für mich als CI-Träger gibt es immer wieder Geräuschkulissen, die meinen Hörgenuss merklich trüben. Am schlimmsten ist das speziell in räumlich begrenzter Umgebung, etwa beim Bahnfahren, in Wartezonen oder in Cafés. Da raschelt es um mich herum, dass es kaum auszuhalten ist. Mitmenschen holen ihre Zeitungen hervor, schlagen sie auf oder um oder falten diese hin und her. Und je nach Größe der Lektüre oder der Intensität des Herumblätterns dauert diese unangenehme Geräuschberieselung lang und länger. Ähnlich nervig ist es, wenn Menschen um mich herum anfangen, ihr „Essen to Go“ zu verspeisen oder sich an Chipstüten, Müsliriegel, Snacks und Schokoladenpapier abarbeiten, noch dazu nach dem Genuss aus reiner Langeweile … Das nervt ungemein!!

Dabei sollte ich mich doch freuen, mit meinem CI endlich wieder akustischen Alltag erleben zu können. Nein, kann ich nicht! Denn schlimmer als das nervige Rascheln um mich herum ist, dass deren Verursacher meist mit Ohrstöpseln behaftet sind und per Bluetooth eigensinnig ihren individuellen Hörgenüssen frönen. Der Clou ist, dass ich das sogar oft mithören kann bzw. muss. Ansprechen ist offenkundig weder erwünscht noch ratsam, man weiß ja nie …

Was rege ich mich überhaupt auf? Ich könnte mich doch ebenfalls im öffentlichen Raum per Bluetooth mit Musik oder Hörbüchern akustisch entspannen. Das hätte sogar den Charme, dass meine Umgebung nicht mithören muss, weil mein CI ja eine Direktanbindung an Hörnerven hat. Wegen Kompatibilitätsproblemen mit einigen Android-Handys muss zum vollen Hörgenuss hier neben dem CI im Induktiv-Modus aber ein Bluetooth-Adapter zwischengeschaltet werden. Gerade diese induktive Handhabung von Hörimplantaten und Hörgeräten ist jedoch sehr anfällig für die vielen elektromagnetischen Felder im öffentlichen Raum, wie z.B. bei Eingangsschranken in Kaufhäusern, bei der Flugsicherung, im Auto und vor allen im ÖPNV. Ein entspanntes Zuhören ist dann leider nicht mehr möglich, weil sämtliche Höreindrücke von einem ständigen, nervtötenden Brummen überlagert werden!

In solchen Momenten wird mir einmal mehr bewusst, dass man auch mit Hörhilfen an der vollen und uneingeschränkten Wahrnehmung von akustischen Genüssen gehindert ist. Gleichwohl bin ich froh, mit meinem CI wieder wesentlich besser hören und ansonsten am alltäglichen Leben teilhaben zu können. Im Gegensatz zu Menschen mit Ohrstöpseln brauche ich auch nicht mehr zu fürchten, in Gefahrsituationen wichtige Signale zu überhören. Ferner bleibt mir der Trumpf, bei lästigen Umweltgeräuschen einfach meine Hörhilfen auszuschalten und mir in bekannt höreingeschränkter Stille gebotene Entspannung zu gönnen.

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